Ein Blick in die Vergangenheit lohnt sich, damit Eltern den Schlaf ihres Nachwuchs besser einordnen können. Antworten aus der Evolutionsbiologie können dabei helfen, angemessene Erwartungshaltungen Säuglingen gegenüber zu entwickeln und die fordernde Anfangsphase des Elternseins ausgeruhter und entspannter zu meistern.
Kulturell bedingte Annahmen eines „normalen“ Babyschlafs
Es gibt zurzeit drei vorherrschende Auffassungen von Schlafnormen für Säuglinge: eine kulturelle, eine biomedizinische und eine biologische bzw. evolutionäre Norm.
Die kulturelle Norm beruht auf Überzeugungen verschiedener kultureller Gruppen, die bestimmte Ideale für einen optimalen Babyschlaf vorgeben. In der westlichen Welt herrscht die kulturelle Überzeugung, dass „gute“ Babys nicht anspruchsvoll sind und die Nacht durchschlafen; ein gutes Baby ist ein Zeichen für gute Eltern. Diese kulturelle Norm besagt außerdem, dass man Babys in Ruhe schreien lassen muss und diese verwöhnt werden, sobald man sie zu oft auf den Arm nimmt. Babys sollen lernen, sich selbst zu beruhigen und von selbst einzuschlafen. Die Wurzeln dieser kulturellen Überzeugung über die Säuglingspflege finden sich in den späten 1800er und frühen 1900er Jahren. Sie wurden maßgeblich von dem amerikanischen Psychologen John B. Watson und dem Kinderarzt L. Emmet Holt geprägt. Sie spiegeln Praktiken und den Lebensstil der weißen Mittelschicht vor hundert Jahren wider: eine Zeit, in der Selbstvertrauen und Unabhängigkeit in der westlichen Gesellschaft hoch geschätzt wurden.
Die biomedizinischen Anhaltspunkte für einen idealen Babyschlaf beziehen sich in der Regel auf Durchschnittswerte, die durch klassische Studien erforscht wurden. Biomedizinische Empfehlungen reflektieren aber oft nur Werte aus kleinen Stichproben. Meta-Analysen – Studien, in denen zahlreiche Forschungsergebnisse ausgewertet werden – haben ergeben, dass es große Unterschiede bei der Schlafdauer von Babys gibt. Anstatt sich auf Tabellen mit durchschnittlichen Schlafmustern zu verlassen, können wir feststellen, ob ein Baby ausreichend geschlafen hat, wenn es wach und glücklich ist.
Weshalb „Durchschlafen“ ein Mythos ist
Die biologische oder evolutionäre Norm ist zwar weniger bekannt, aber vermutlich die Realistischste. Genau genommen ist das, was Eltern oft zum Verzweifeln bringt, nämlich dass Babys mehrmals pro Nacht aufwachen, evolutionsbedingt. So wie andere Säugetier-Babys müssen Babys der Spezies Mensch häufig Nahrung zu sich nehmen, um ihr schnell wachsendes Gehirn mit ausreichend Nährstoffen zu versorgen. Dieses macht bei der Geburt nur ein Viertel der späteren Erwachsenengröße aus.
Menschliche Säuglinge sind auf eine gewisse Art und Weise hilflos und von dem Kontakt mit ihren Bezugspersonen abhängig. Mit ihrem Verhalten versuchen sie aber noch immer in der „wilden Natur“ zu überleben, da ihr genetischer Code sie nach wie vor auf Gefahren wie in der Steinzeit vorbereitet, obwohl die meisten Bedrohungen aus der Vergangenheit in Industriestaaten überhaupt nicht mehr vorhanden sind.
Wie Evolutionsbiologie zu besserem Babyschlaf beitragen kann
Basierend auf evolutionsbiologischem Wissen können folgende Ratschläge an Eltern gegeben werden:
- Körperliche Nähe ist für eine gesunde psychische und physische Entwicklung essentiell und hilft Kindern dabei sich zu entspannen. Auch wenn Babys ihre Mütter beziehungsweise Väter zum Einschlafen brauchen, werden sie später trotzdem selbständig werden. Tragen, Stillen und Ausruhen auf der Brust geben ihnen den Schutz und die Sicherheit, die sie benötigen.
- Ein Verständnis der Biologie des normalen Säuglingsschlafs kann Eltern helfen, mit den verschiedenen Aspekten des Babyschlafs besser umzugehen und ihn mit dem Schlafrhythmus der Familie zu koordinieren. Babys entwickeln einen zirkadianen Schlafrhythmus. Das bedeutet, dass sie ihren Wach- und Schlafrhythmus an Licht und Dunkelheit anpassen. Wenn man Babys früh am Tag dem Tageslicht aussetzt und lange Nickerchen in einem abgedunkelten Raum während des Tages meidet (z. B. wenn das Stillen unter Tags mit zusätzlichen Schmuse- und Spieleinheiten unter Tageslicht ergänzt wird), schlafen sie nachts besser durch. Auch wenn man die Schlafenszeit des Säuglings auf einen späteren Zeitpunkt am Abend verschiebt, können Eltern davon profitieren. Denn dadurch stimmt sich ihr eigener Schlaf auf die längste Schlafperiode des Babys ab.
- Studien der Schlafforschung befassen sich mit dem nächtlichen Schlafplatz von Säuglingen. Diese zeigen, dass Co-Sleeping, also das gemeinsame Schlafen von Mutter und Kind in einem Bett, das Stillen fördert und die Gefahr des Auftretens eines plötzlichen Kindstodes senkt. Wenn Mutter und Kind in einem Bett schlafen, dann kommunizieren diese nachts so intuitiv miteinander, dass das Stillen „möglichst schlafschonend“ für die Mutter ist. Die Schlafphasen zwischen Mutter und Kind werden zu einem großen Teil so stark aufeinander abgestimmt, dass stillende Mütter viel seltener in Phasen des Tiefschlafs aufgeweckt werden. Für Eltern, die Angst haben, im Schlaf ihr Kind versehentlich zu überrollen, können nützliche Maßnahmen im Bezug auf die Sicherheit vorgenommen werden, wie z.B. Babys in Rückenlage ablegen und Alkohol und Rauch im Babyschlafzimmer vermeiden.
Allgemein ist wichtig zu betonen, dass es normal ist, wenn Schlafen mit Babys kräfteraubend ist. Babys schlafen sehr individuell und meistens wissen Eltern intuitiv, was für ihr Kind am besten ist.
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