Russland lässt als erstes Land der Welt einen Impfstoff gegen das neuartige Coronavirus zu. Internationale Kritik wirft ihm jedoch vor, dessen Wirksamkeit und Sicherheit nicht ausreichend getestet zu haben. Die WHO reagiert zurückhaltend und weist darauf hin, sich an die Regeln zu halten. Ist eine Impfung besser als keine Impfung?
Langwieriges Verfahren
Für gewöhnlich dauert die Entwicklung eines Impfstoffes über 10 Jahre bis zu dessen Zulassung. In der Corona-Krise muss alles viel schneller gehen. Auch bei anderen sich derzeit in der Entwicklung befindlichen Impfstoffen findet vieles im Zeitraffer statt. Dennoch müssen grundsätzlich alle Phasen des Zulassungsverfahrens abgeschlossen sein, bevor ein neuer Stoff zugelassen wird. Diese laufen folgendermaßen ab:
- Präklinische Tests: Durchführung an Tieren; Reagiert das Immunsystem wie erhofft auf das Virus?
- Phase I: an wenigen gesunden Menschen; Überprüfen der Verträglichkeit und Erfassen häufiger Nebenwirkungen
- Phase II: an mehreren hundert Menschen; Immunreaktion, Verträglichkeit und Dosisfindung im Fokus; auch an chronisch Kranken getestet
- Phase III: an einigen tausend Menschen; Bestätigung der Sicherheit und Wirksamkeit
Russland hat sich Phase III gespart
Das Vorgehen Russlands bei der Zulassung des Impfstoffes widerspricht dem international üblichen Ablauf. Die klinische Phase III wurde ausgelassen, Daten fehlen – Weder Sicherheit noch Wirksamkeit seien an einer ausreichenden Anzahl von Probanden überprüft worden. Gerade in den späteren Phasen der klinischen Tests scheitern aber viele Impfstoffkandidaten und Medikamente. Auch in Russland selbst gibt es Kritik. Pharmafirmen kritisieren die überhastete Zulassung, da es praktisch keine gesicherte Information über den Impfstoff bzw. dessen Wirkung gebe. Lediglich von der Testung an 38 gesunden Personen mit erfolgreichem Ausgang ist die Rede. Bisher hat Russland keine wissenschaftlichen Daten veröffentlicht, um eine unabhängige Bewertung möglich zu machen.
Angeblich keine Nebenwirkungen
Details über „Gam-Covid-Vac Lyo“ sind wenige bekannt. Der Impfstoff, der in Anlehnung an den sowjetischen Satelliten auch „Sputnik V“ genannt wird, ist aber wahrscheinlich vektorbasiert. Das bedeutet, dass er die Hüllen von anderen Viren nutzt, um Genmaterial von SARS-CoV-2 in den Körper zu schleusen und so eine Immunreaktion hervorzurufen. Diese Methode ist nicht neu und wird momentan auch in einem anderen Projekt unter der Beteilung der Universität Oxford erprobt. Grundsätzlich spricht das russische Vorgehen nicht zwingend dagegen, dass der Impfstoff funktioniert.
Was jedoch erstaunlich ist und Skepsis hervorruft, sind die angeblich nicht vorhandenen Nebenwirkungen des Impfstoffes. Lediglich vorübergehendes leichtes Fieber soll er ausgelöst haben. Virologe Stephan Becker von der Universität Marburg schenkt dem wenig Glauben. Ein Impfstoff ohne Nebenwirkungen sei sehr, sehr selten. Oft seien Reaktionen wie Schmerzen und Rötungen an der Einstichstelle oder Fieber sogar ein Hinweis auf dessen Wirksamkeit.
Lehrkräfte und medizinisches Personal zuerst
Die dritte klinische Phase der Testung soll demnächst anlaufen. Schon im Oktober sollen sich in Russland jedoch medizinisches Personal und Lehrkräfte (auf freiwilliger Basis, so die Angabe) impfen lassen. Präsident Putin nennt die Impfung „effektiv“, auch seine Tochter erhielt sie bereits. Laut russischen Angaben haben auch schon mehr als 20 weitere Länder Interesse an dem Impfstoff gemeldet, darunter Brasilien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Expertinnen und Experten weltweiten warnen jedoch: Es sei unverantwortlich, ganze Bevölkerungsgruppen zu impfen, ohne genau über die Nebenwirkungen bescheid zu wissen. Sie erkennen zwar die kritische Lage an, würden sich selbst den Impfstoff aber aktuell nicht verabreichen. Es seien schlichtweg zu wenig Daten vorhanden.
Was meinen Sie?