Seit dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie wird immer wieder neu evaluiert, welche Medikamente zur Behandlung des hartnäckigen Virus tatsächlich infrage kommen. Während sich einige Präparate im Nachhinein als unwirksam herausstellen, können andere wiederum überzeugen, indem sie beispielsweise schwere Verläufe verhindern oder diverse Symptome deutlich abschwächen. Nun hat das „British Medical Journal“ (BMJ) eine aktualisierte Bewertung jener Medikamente veröffentlicht, die bei einer Erkrankung mit dem neuartigen Coronavirus eingesetzt werden.
Knapp 300 Studien in Meta-Analyse vereint
Bisher konnten über 190 randomisierte klinische Studien zur Evaluation der Medikamente herangezogen werden. Dabei wurden Ergebnisse berücksichtigt, die insgesamt von über 76.000 Probanden stammen. Ein aus über 50 renommierten Experten bestehendes internationales Forschungsteam hat sich nun der Aufgabe angenommen, diese Bewertung zu überarbeiten und zusätzlich mehr als 100 weitere Studienergebnisse in die aktuelle Auswertung einzubauen. Anhand der verfügbaren Daten kam die Forschungsgruppe zu folgenden vorläufigen Ergebnissen:
1. Kortikosteroide
…senken die Wahrscheinlichkeit, dass COVID-Patienten mechanische Beatmung benötigen (pro 1.000 Erkrankungen 25 Fälle weniger) und verringern das Risiko, an COVID-19 zu sterben (pro 1.000 Erkrankungen 20 Fälle weniger). Umgangssprachlich wird bei dem Präparat oft von Kortison gesprochen, im Grunde handelt es sich um synthetisch hergestellte Steroidhormone der Nebennierenrinde, die in der Medizin sehr vielfältig eingesetzt werden.
2. Interleukin-6-Inhibitoren
…reduzieren die Wahrscheinlichkeit einer mechanischen Beatmung (pro 1.000 Erkrankungen 30 Fälle weniger) und verkürzen die Dauer eines Krankenhausaufenthalts durchschnittlich um 4,3 Tage. Auswirkungen auf die Mortalität bei einer COVID-Erkrankung bleiben bisher ungeklärt. Interleukin-6-Hemmer verhindern die Bindung des IL-6-Botenstoffes (Zytokin: reguliert Entzündungsprozesse) an seinen spezifischen Rezeptor, die Unterbrechung dieses Signalwegs unterbindet folglich eine Entzündungsreaktion des Körpers.
3. Januskinase-Inhibitoren
…besitzen eine immunsuppressive und entzündungshemmende Wirkung und können das Risiko, dass Patienten an COVID-19 sterben, deutlich minimieren (pro 1.000 Erkrankungen 50 Fälle weniger). Nicht nur die Wahrscheinlichkeit für die Notwendigkeit mechanischer Beatmung (pro 1.000 Erkrankungen 46 Fälle weniger) wird gesenkt: Auch die Dauer der künstlichen Beatmung wird im Durchschnitt um 3,8 Tage verkürzt.
4. Colchicin…
…ist ein natürlicher Wirkstoff der Herbstzeitlosen (lilienartige Pflanze), welcher aufgrund seiner mitosehemmenden Eigenschaft (Zellkern: Teilung wird verhindert) als Zellgift wirkt. Er senkt die Sterblichkeit bei nicht allzu schweren Verläufen erheblich (pro 1.000 Erkrankungen 78 Fälle weniger) und kann auch das Risiko für die Erforderlichkeit einer mechanischen Beatmung minimieren (pro 1.000 Erkrankungen 57 Fälle weniger).
Konträre Einschätzung zu Wirkstoffen
Trotz der Auswertung enormer Datenmengen beschreiben die Forschenden die Belastbarkeit der Ergebnisse je nach Wirkstoff als sehr unterschiedlich. In jedem Fall sind weiterführende Studien und regelmäßige Neuevaluationen notwendig. Für folgende Medikamente konnte sehr eindeutig festgestellt werden, dass bezüglich COVID-19 keine Effekte auf patientenrelevante Ergebnisse feststellbar sind:
- Azithromycin (Antibiotikum; bei bakterieller Infektion der Atemwege)
- Hydroxychloroquin (entzündungshemmender & antiviraler Wirkstoff; Gruppe der Malariamittel)
- Lopinavir-Ritonavir (antiretrovirales Kombinationsmedikament; Behandlung von HIV)
- Interferon-beta (zellwachstumshemmende Zytokine; Therapeutikum bei Multipler Sklerose)
Auch die Wirksamkeit von Remdesivir, das bisher als sehr vielversprechendes und speziell entwickeltes Präparat gegen COVID-19 galt, ist unsicher: Den knapp 300 vorliegenden Studien konnten keine eindeutig positiven Effekte entnommen werden. Besonders bedeutsam schätzen die Experten hingegen die Wirkung von Kortikosteroiden und IL-6-Inhibitoren ein, da diese vor allem für Patienten mit schweren Verläufen relevant sind.
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