Etwa zwei Milliarden chronische Krankheiten könnten laut einer aktuellen Studie derselben Ursache geschuldet sein: eine geschädigte Epithelbarriere durch Umweltgifte und Chemikalien. Das Epithel ist die oberste Schicht der (Schleim-)Haut und schützt tiefer liegende Gewebe vor Umwelteinflüssen wie beispielsweise Allergenen, Schadstoffen, Viren und Bakterien. Ist diese Barriere nachhaltig beschädigt, können laut einer Schweizer Studie verschiedene chronische Erkrankungen entstehen: Von Allergien und neurodegenerativen sowie psychischen Beschwerden reichen die Krankheitsbilder bis hin zu Autoimmunerkrankungen.
Metastudie zu chronischen Krankheiten
Experten des Schweizer Instituts für Allergie- und Asthmaforschung (SIAF) haben in einer ihrer aktuellen Arbeiten den momentanen Forschungsstand über chronische Krankheiten gesammelt dargelegt, wofür wegweisende Publikationen der letzten Jahre zusammengetragen wurden. Dabei kamen die Forschenden zu dem Schluss, dass Epithelschädigungen gemeinsame Hauptursache für zahlreiche chronische Krankheiten sind. Alleine das SIAF selbst hat in den vergangenen 20 Jahren etwa 60 Studien veröffentlicht, welche thematisieren, wie Epithelien verschiedener Organe durch Umwelteinflüsse geschädigt werden. Anhand der vorliegenden Resultate konnte sich die sogenannte Epithelbarriere-Hypothese bestätigen. Sie besagt, dass verschiedenste Umweltsubstanzen die Epithelschicht von Haut, Lunge und Darm angreifen. Alle Ergebnisse der aktuellen Forschungsarbeit wurden kürzlich im Fachjournal „Nature Reviews Immunology“ präsentiert.
Geschwächtes Epithel verursacht Entzündungsreaktionen
Wenn die betroffene Haut- bzw. Schleimhautschicht angeschlagen ist, so können körperfremde Eindringlinge wie Krankheitserreger oder Allergene viel leichter in tiefe Gewebe eindringen: Dies führt nicht selten zu lokalen und meist beständigen oder zumindest wiederkehrenden Entzündungen. Damit ist vermutlich die Grundlage für verschiedenste chronische Krankheitsbilder gefunden, darunter:
- Asthma (chronische Entzündung und Überempfindlichkeit der Atemwege)
- Zöliakie (Glutenunverträglichkeit; Entzündungsreaktion der Dünndarmschleimhaut)
- Morbus Crohn und Colitis ulcerosa (entzündliche Darmerkrankungen)
- Atopische Dermatitis (Ekzem; chronische und juckende Entzündung der Haut)
- Chronische Rhinosinusitis (dauerhafte Entzündung der Nase und Nasennebenhöhlen)
Weiters wird eine Schädigung des Darmepithels auch als Auslöser für diverse systemische Stoffwechsel- und Autoimmunerkrankungen vermutet, wie zum Beispiel:
- Diabetes mellitus („Zuckerkrankheit“; Blutzuckerspiegel ist krankhaft erhöht)
- Adipositas (krankhafte und chronische Fettleibigkeit; ungewöhnlich starke Fettansammlungen im Körper)
- Multiple Sklerose (chronische Entzündung des Nervensystems; Nervenstrukturen werden schubartig zerstört)
- Rheumatoide Arthritis (entzündliche und schubweise verlaufende rheumatische Gelenkserkrankung)
- Lupus erythematodes („Schmetterlingsflechte“; schubförmig verlaufende Entzündungen an Haut und Organen; Immunsystem attackiert körpereigene Zellstrukturen)
- Autoimmunhepatitis (chronisch-entzündliche Autoimmunkrankheit der Leber; Leberzellen haben Immuntoleranz verloren und werden vom eigenen Immunsystem angegriffen)
Umweltsubstanzen schädigen Epithelschicht?
Die Epithelbarriere-Hypothese beinhaltet zudem eine Erklärung dafür, wieso Autoimmunerkrankungen, entzündliche Krankheiten und Allergien seit Jahrzehnten zunehmen. Die westliche Lebensweise der Menschen, welche vor allem durch Industrialisierung und Urbanisierung geprägt ist, trägt zur Freisetzung einer Vielzahl von toxischen Substanzen bei. Zu jenen Stoffen, die sich in steigender Konzentration negativ auf die Widerstandsfähigkeit des Epithels auswirken, gehören unter anderem:
- Ozon („Sommersmog“)
- Nanopartikel und Mikroplastik
- Reinigungsmittel und Pestizide
- Emulgatoren
- Feinstaub und Abgase
- Zigarettenrauch
„Neben der globalen Erwärmung und Viruspandemien wie COVID-19 stellen diese schädlichen Substanzen eine der größten Bedrohungen für die Menschheit dar“, so die beunruhigende Warnung des SIAF-Direktor Cezmi Akdis. Umweltbedingte Defekte in den Epithelien von Haut und Schleimhäuten begünstigen wiederum die Entstehung von chronisch-entzündlichen Krankheiten. Überdies verursachen Epithelschäden auch viele anderen Erkrankungen, welche sich durch Veränderungen im Mikrobiom der betroffenen Gewebe auszeichnen. Die undichte Epithelbarriere kann in Kombination mit gestörten Bakteriengemeinschaften in der Darmflora nicht nur zur Verschlimmerung, sondern auch überhaupt erst zur Entstehung von Autoimmun- und Stoffwechselerkrankungen führen. Zudem dürften neurodegenerative und psychische Krankheitsbilder ebenfalls die Folge von Epithelschäden sein: Veränderungen im Darm-Mikrobiom und entzündliche Reaktionen des Körpers können Alzheimer, Autismus, Parkinson und Depressionen auslösen.
Weitere Epithel-Untersuchungen unausweichlich
„Es ist enorm wichtig, die Epithelbarrieren weiter zu erforschen, um die molekularen Mechanismen besser zu verstehen“, betont Institutsleiter Akdis. Damit könnten nicht nur neue Ansätze zur Prävention, Frühintervention und Therapie von chronischen Krankheiten gefunden werden: Die Forschenden erhoffen sich vor allem, Behandlungsmöglichkeiten für die Stärkung der Epithelbarriere zu finden. Um die Epithelien ausreichend zu schützen, sollte man auf eine positive Beeinflussung der Darmflora setzten. Neben gesunder Ernährung ist es vor allem wichtig, die Exposition mit schädlichen Stoffen weitgehend zu meiden. In Zukunft muss dafür an weniger toxischen Produkten und Herstellungsmethoden gearbeitet werden, so die Einschätzung des Experten.
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