Laut ExpertInnen ist seit Jahren ein stetiger Aufwärtstrend von Essstörungen zu verzeichnen, wobei in Medien, Film und Fernsehen sowie innerhalb der Gesellschaft insbesondere Anorexia nervosa (Magersucht) und Bulimia nervosa (Bulimie, auch Ess-Brechsucht genannt) geläufige Ausprägungen von gestörtem Essverhalten und somit entsprechend bekannt sind. Über die sogenannte Binge-Eating-Störung wissen deutlich weniger Bescheid, obgleich sie sowohl in Deutschland als auch international als die häufigste Essstörung klassifiziert werden kann.
Unkontrollierbare Essanfälle und Heißhungerattacken
Mehr als die Hälfte aller deutschen BürgerInnen sind übergewichtig, ca. 20 Prozent adipös. Etwa fünf Prozent davon sollen an der Binge-Eating-Disorder leiden, die Dunkelziffer ist jedoch bedeutend größer, da das gestörte Essverhalten größtenteils nicht erkannt und in weiterer Folge nicht behandelt wird. Wie die Universität Leipzig in einer Pressemitteilung berichtet, verschlingen (engl. binge) Betroffene Unmengen an meist ungesunder und kalorienreicher Nahrung in Schüben, die keinem Muster folgen und willkürlich auftreten. Ohne dabei von Hunger getrieben zu werden, kommt es zu Heißhungeranfällen und unkontrollierten Fressattacken, die Frust, Langeweile oder ein allgemeines Gefühl von Leere verdrängen sollen. Werden unangenehme Emotionen häufig durch Essen kompensiert, kann daraus eine Sucht resultieren. Im Gegensatz zu Menschen mit Bulimie greifen an der Binge-Eating-Störung Leidende jedoch zu keinen gewichtsregulierenden Maßnahmen wie beispielsweise die Einnahme von Abführmitteln oder Erbrechen.
Oftmals sind die Essattacken von einem Ohnmachtsgefühl der Binge-Eater gekennzeichnet, da diese dabei das Zeitgefühl verlieren und sich nicht an Beginn und Ende der Anfälle erinnern können. „Manche Patienten sprechen sogar von einem regelrechten Trance-Zustand während der Essattacke“, so die Kinder- und Jugendtherapeutin Liane Hammer, die am ANAD e.V. Versorgungszentrum für Essstörungen in München tätig ist. Der zwanghafte und unkontrollierbare Konsum findet erst dann ein Ende, wenn sich die Betroffenen wortwörtlich bis zum Bersten gefüllt haben und extremes Unwohlsein eintritt.
Binge-Eating und seine Folgen
Das Resultat: Gewichtszunahme bis hin zu starkem Übergewicht, das sowohl die physische als auch die psychische Gesundheit der Menschen zutiefst belastet. Das Risiko für erhöhte Cholesterinwerte, Diabetes, Bluthochdruck, Gelenkbeschwerden und Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht sich signifikant, hinzu kommen das Schamgefühl aufgrund des gestörten Essverhaltens, heimliche Fressgelage sowie manipulative Taktiken und Tricks, um die Essstörung vor Anderen zu verbergen. Bei Frauen kann zudem ihre Fruchtbarkeit beeinträchtigt werden, bei Männern erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, an Prostatakrebs zu erkranken.
Die Psyche, die bei Binge-Eatern bereits vor Beginn der Sucht stark belastet wird, leidet zusehends, da sich die Betroffenen in einer sich selbst bedingenden Abwärtsspirale befinden: Der Konsum des Essens wird als Ausweg betrachtet, um Wut, Einsamkeit, Trauer, Überforderung, etc. zu entkommen. Nach der Heißhungerattacke und dem sporadisch anhaltenden Höhenflug sowie Glücksgefühl, verstärken sich die zuvor durch die exzessive Aufnahme von Nahrungsmitteln zu stillen versuchten Selbstzweifel und negativen Emotionen und das Dilemma beginnt von Neuem.
Auswege aus dem Teufelskreis
Da es sich bei einer Esssucht um ein typisches Vermeidungsverhalten handelt, sollten sich Betroffene in (psycho)therapeutische Behandlung begeben. Neben der Gewichtsreduktion stellt die Psychotherapie einen entscheidenden Bestandteil zur Bekämpfung dieser Form der Esssucht dar, da es sich dabei in der Regel nicht um eine Störung des Hungergefühls handelt, wie z.B. bei übergewichtigen oder adipösen Menschen, bei denen, im Unterschied zu Normalgewichtigen, das Sättigungsgefühl erst nach dem Verzehr großer Quantitäten an Lebensmitteln eintritt. Genuss und Hunger spielen bei Binge-Eatern eine eher untergeordnete Rolle, vielmehr dienen sie zur Bekämpfung negativer Stimmungen.
Zudem fanden WissenschaftlerInnen vom Forschungsbereich Verhaltensmedizin der Universität Leipzig unlängst heraus, dass Fressanfälle bei Menschen mit Binge-Eating-Disorder durch die Behandlung mit EEG-Neurofeedback deutlich verringert werden konnten. Bei den Betroffenen ließen sich Veränderungen im Elektroenzephalogramm (EEG), einer Methode zur Messung der elektrischen Aktivität des Gehirns an der Kopfoberfläche, feststellen. Im Fachjournal „Neurotherapeutics“ skizzierten die Forschenden aus Leipzig nun die Behandlung dieser Veränderungen mit EEG-Neurofeedback. „EEG-Neurofeedback ist eine neurokognitive Intervention, bei der die EEG-Aktivität in Echtzeit analysiert und auf einem Computerbildschirm, zum Beispiel durch einen sich bewegenden Ball, visualisiert wird“, so Marie Blume, Autorin der Studie und Doktorandin an der Medizinischen Fakultät. Die beiden EEG-Trainings – ein nahrungsspezifisches sowie ein allgemeines EEG-Neurofeedback – veränderten die EEG-Aktivität der Binge-Eater erfolgreich nach der Behandlung. Essanfälle konnten um bis zu 60 Prozent verringert werden und es kam zu einer Verbesserung des Heißhungergefühls sowie der Sorgen um Essen, Figur und Gewicht.
Das Entscheidendste ist, Betroffenen der Binge-Eating-Störung zu vermitteln, nicht auf sich allein gestellt zu sein und der Essstörung machtlos in völliger Isolation gegenüberzustehen. Wie so oft kann ein Gefühl von Zugehörigkeit und Akzeptanz Bäume versetzen und so gemeinsam ein Weg aus der Sucht gefunden werden.
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