Rund 32.000 Kinder und Jugendliche in ganz Deutschland leiden unter Typ-1-Diabetes und machen ihn damit zur häufigsten Stoffwechselerkrankung unter Minderjährigen. ForscherInnen der Justus-Liebig-Universität (JLU) Gießen konnten nun beunruhigende neue Erkenntnisse in der Materie verzeichnen: Nach den jeweiligen COVID-19-Pandemiewellen erkrankten rund drei Monate später deutlich mehr Jungen und Mädchen an Diabetes Typ 1 als die Jahre zuvor. Besteht ein direkter Zusammenhang zwischen SARS-CoV-2 und Typ-1-Diabetes im Kindes- und Jugendalter oder liegen dem Phänomen andere Ursachen zugrunde?
Typ-1-Diabetes: Definition und Symptome
Diabetes Typ 1, auch juveniler oder jugendlicher Diabetes genannt, wird als Autoimmunerkrankung klassifiziert, bei der das körpereigene Immunsystem die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse angreift. Das menschliche Immunsystem richtet sich folglich gegen Teile des Körpers selbst. Die Insulinproduktion des Körpers stagniert, die jedoch für die Verwertung von Zucker und anderen Kohlenhydraten benötigt wird. Es kommt zu einem Anstieg des Blutzuckerspiegels und in weiterer Folge zur Erhöhung schwerwiegender gesundheitlicher Risikofaktoren: Nerven und Blutgefäße können Schaden nehmen, woraufhin es zu einer Beeinträchtigung der Funktion von Organen kommen kann. Eine regelmäßige Untersuchung von Augen, Nieren, Gehirn, Füßen und dem Herz-Kreislauf-System ist unentbehrlich. Da juveniler Diabetes nicht heilbar ist, müssen sich Typ-1-Diabetiker Insulin ein Leben lang von außen zuführen – durch spezielle Pumpen oder Spritzen.
Im Gegensatz zum Typ-2-Diabetes, der durch Faktoren wie Übergewicht, Adipositas, Bewegung und den individuellen Lebensstil beeinflusst wird, tritt Diabetes Typ 1 unabhängig davon auf. In Deutschland leben zurzeit ca. 373.000 Menschen mit dieser Form des Diabetes. Laut der Arbeitsgemeinschaft für Pädiatrische Diabetologie können ständiger Durst, häufiges Wasserlassen, stetige Müdigkeit und Gewichtsabnahme als mögliche Anzeichen für eine Diabetes-Typ-1-Erkrankung fungieren. Weisen Kinder diese Symptomatik auf, sollten Eltern eine Kinderärztin oder einen Kinderarzt konsultieren, da Diabetes unentdeckt und damit unbehandelt lebensbedrohlich sein kann.
Keine Korrelation zwischen Coronavirus und Diabetes
Ziel der Gießener Studie, die in der Fachzeitschrift „Diabetes Care“ veröffentlicht wurde, war es herauszufinden, ob die COVID-19-Pandemie Auswirkungen auf die Häufigkeit von Typ-1-Diabetes im Kindesalter hat. Dabei wurden Daten von Kindern und Jugendlichen, bei denen eine Neuerkrankung des juvenilen Diabetes diagnostiziert werden konnte, von Januar 2020 bis Ende Juni 2021 ausgewertet und einem Vergleich mit den Daten der Vorjahre von 2011 bis 2019 unterzogen. Anhand der Daten, die aus dem bundesweiten DPV-Register (Diabetes-Patienten-Verlaufsdokumentation) der Universität Ulm stammen, konnte eine Inzidenzerhöhung um 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit neudiagnostiziertem Typ-1-Diabetes im Zeitraum der Pandemie festgemacht werden.
Obgleich das Gießener Forschungsteam einen Zusammenhang zwischen den Pandemiewellen und den minderjährigen Diabetes-Neuerkrankten nachweisen konnte, ist sich Kinderdiabetologe und Leiter der Studie, Clemens Kamrath, ziemlich sicher, dass das COVID-19-Virus nicht direkt für die Auslösung des Diabetes Typ 1 bei Kindern und Jugendlichen verantwortlich sei. Kamrath sieht die Ursache der Diabetes-Neuerkrankungen eher in den Maßnahmen zur Eindämmung der jeweiligen Pandemiewelle verortet und geht von der sogenannten Hygienethese aus: „Wir sind noch sehr zurückhaltend mit der Interpretation, aber wir verstehen es bislang so, dass es die veränderten Umstände gewesen sein könnten. Geschlossene Kitas, kaum Kontakte, kaum Infektionen.“ Eine Unterforderung des Immunsystems könnte die Entstehung von Autoimmunkrankheiten wie Typ-1-Diabetes begünstigen, da die körpereigene Immunabwehr insbesondere bei Kleinkindern noch nicht vollständig entwickelt und dementsprechend anfälliger für veränderte Umstände sei. „Wir glauben daher, dass es nicht direkt der Erreger ist, der den Diabetes auslöst“, erläutert Kamrath, da sich in der zweiten Pandemiewelle, aufgrund geöffneter Kindergärten und Schulen, deutlich mehr Mädchen und Jungen mit SARS-CoV-2 infizierten, die Diabetesfälle ein Vierteljahr später jedoch zahlenmäßig ungefähr gleich blieben. Kamrath weist jedoch darauf hin, dass es sich bei all diesen Erkenntnissen vorerst nur um Hypothesen handle.
Zukunftsprognosen
Aus den Daten gehe neben dem zeitlichen Zusammenhang jedoch auch der eindeutige Einfluss des Alters der Kinder hervor. Bei Kleinkindern unter sechs Jahren trat ein Typ-1-Diabetes wesentlich häufiger neu auf als bei Kindern im Alter von sechs bis zwölf Jahren. Bei Jugendlichen ab zwölf Jahren hob sich die Zahl der neu diagnostizierten Diabetesfälle ebenfalls nicht besonders stark von den Erfahrungswerten ab. Die steigende Immunabwehr mit zunehmendem Alter könnte als mögliche Erklärung dafür dienen, warum Klein- und Kindergartenkinder häufiger erkrankten als ältere Mädchen und Jungen. Zudem könnte auch der psychische Stress, dem die Kinder und Jugendlichen durch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ausgesetzt waren, eine Rolle spielen.
Laut Kamrath kann anhand der Omikron-Welle festgemacht werden, ob sich die aufgestellten Hypothesen und Prognosen seines Forschungsteams bewahrheiten werden. Die massive Durchseuchung unter Kinder und Jugendlichen werde zeigen, ob das Coronavirus tatsächlich als Auslöser für Diabetes in Frage käme, da es dann in einigen Monaten zu einer gewaltigen Zunahme der Typ-1-Diabetes-Fälle kommen müsste. Würde dieses Szenario nicht eintreten, läge das Gießener Forschungsteam mit seiner Interpretation der Daten richtig.
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