Ohne Zweifel ist es wichtig über das psychische und seelische Befinden von Personen oder einem selbst offen zu sprechen und dabei kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Die zunehmende Online-Präsenz von “Mental-Health-Issues“ führt aktuell allerdings zu immer mehr fälschlichen Selbstdiagnosen und Nachahmungen. Warum das so gefährlich ist, wird im Folgenden erklärt.
Wir sind stärker als wir glauben
“Zwei Drittel der Menschen verfügen über eine sehr gute psychische Gesundheit und können mit potenziell traumatisierenden Ereignissen umgehen, ohne davon traumatisiert zu werden.”, schreibt George Bonanno in seinem Buch “The End of Trauma”. Der Professor für klinische Psychologie sammelt sein gesamtes Wissen zur Traumaforschung und gilt aufgrunddessen als Experte in diesem Bereich.
Er ist der Meinung, dass nur ca. 30 Prozent der Menschen mit einer schwachen psychischen Gesundheit zu kämpfen haben. Heutzutage scheint jedoch Gegenteiliges Realität zu sein, sofern man all den Menschen Glauben schenkt, die eine Selbstdiagnose durchführen: Die Generation Z fordert laut dem Forbes Magazine mehrere “Mental-Health-Tage” im Jahr, um ihrer psychischen Gesundheit Erholung zu gönnen.
Online-Dokumentation der eigenen Probleme
Psychische Gesundheit wird mittlerweile häufig nicht mehr als positiver Begriff angesehen, sondern eher als Problem verstanden – das Negative steht im Vordergrund. Auf diversen sozialen Medien kann man jederzeit Einblick in die Gemütszustände Anderer bekommen und sich gleichzeitig selbst informieren. Viele thematisieren ihr eigenes “Leiden”, also ihre psychischen Erkrankungen, online und jeder kann dabei zusehen. Fast wie ein öffentliches Tagebuch, welches besonders bei Jugendlichen beliebt ist. Im Jahr 2022 wurden auf TikTok allein bis März beispielsweise 5,6 Milliarden Mal Videos unter dem Hashtag #ADHS aufgerufen. Damit zählen diese zu den am häufigsten angesehenen Videos. Zusätzlich dazu gab es noch andere psychische Störungen, welche in den Videos porträtiert werden. Insgesamt hatten diese schon Anfang 2022 über 50 Milliarden Aufrufe.
Trigger-Warnings warnen vor sensiblen Inhalten
Trigger-Hinweise vor diversen Beiträgen warnen vor sensiblen Inhalten. Übersetzt könnte man von Auslöser-Warnungen sprechen, die Betroffene gegebenenfalls vor einer Re-Traumatisierung schützen sollen. Aber nicht nur in Fernsehsendungen oder auf den sozialen Netzwerken gibt es Trigger-Warnings, sondern auch auf Universitäten oder Schulen, wenn sensible Themen wie Abtreibung, Suizid oder Mord besprochen werden.
Es lässt sich nicht darüber streiten, dass es eine positive Entwicklung ist, psychische Krankheiten offen zu thematisieren. Niemand soll sich schließlich für tatsächliche psychische Probleme schämen. Jedoch ist der allgegenwärtige Gebrauch des “Mental-Health” Begriffs, der zunehmend falsch interpretiert wird, vielleicht nicht nur mit Positivem behaftet.
Zunehmender Hype um psychische Krankheiten
Laut George Bonanno ist der Begriff Trauma so omnipräsent, dass er bereits sinnentfremdet wurde. Psychische Krankheiten könnten durch die häufige Begriffsverwendung trivialisiert werden. Denn auf den Diskurs über die mentale Gesundheit folgt eine Art Hype um bestimmte psychische Störungen. Aber nicht nur ADHS, sondern auch das Tourette Syndrom wird mittlerweile beispielsweise häufig nachgeahmt. Laut dem “British Medical Journal” kam es zuletzt zu einer “explosionsartigen Zunahme” an Tourette-Ticks bei Teenager-Mädchen. Normalerweise aber leiden vermehrt Jungen unter dieser Störung. Darüber hinaus leidet ungefähr nur ein Prozent der Bevölkerung tatsächlich unter dem Syndrom, welches sich meist schon im Kindesalter bemerkbar macht. Interessant ist also, dass es sich bei dem Tourette-Boom um junge Mädchen nach der Pubertät handelt, die eigentlich nicht in das Krankheitsschema passen.
Laut dem britischen Fachmagazin handelt es sich dabei um eine “soziale Ansteckung”, die nicht nur in Großbritannien durch soziale Medien stattfindet. Die Umstände führen sogar dazu, dass sich die internationale Tourette-Gesellschaft über das Thema bei einer Konferenz austauschte.
Normal sein ist langweilig
Die Schweizer Spezialistin für Tourette-Syndrom Karin von Plessen meint dazu: “Ein bei Jugendlichen sehr populärer YouTube-Kanal heißt “Gewitter im Kopf – Leben mit Tourette”, da beschreibt ein junger Mann mit dem Syndrom seinen Alltag.” Auf YouTube hat Jan Zimmermann zusammen mit seinem Videopartner Tim Lehmann 2,1 Millionen Follower und 2021 erschien sogar ein Buch von ihnen. Mädchen mit diversen Tourette-Ticks haben meistens eines gemeinsam: Sie sind auf sozialen Netzwerken unterwegs und konsumieren “Mental-Health” Inhalte.
Oliver Bilke-Hentsch, ein Experte im Gebiet der sozialen Medien und Krankheiten, meint die Nachahmung einer Krankheit sei kein neuer Trend. Das Neue an dem Phänomen sei lediglich der technische Aspekt, der sofortige Aufmerksamkeit generiert. Hier gilt die Devise “normal sein ist langweilig”, deswegen muss man Sichtbarkeit durch auffälliges Verhalten generieren.
Aufmerksamkeit ja – in der richtigen Dosis
Die Nachahmung einer psychischen Krankheit heißt nicht, dass man nicht tatsächlich an einer anderen Erkrankung leiden könnte. Oft verstecken diese sich hinter den Ticks oder der Selbstverletzung von jungen Mädchen; ein Beispiel dafür sind Angststörungen. Auffälligkeiten sollten in jedem Fall ernstgenommen werden.
Für tatsächlich Betroffene ist der Hype jedoch sehr problematisch, denn so schnell wie der Trend da war, ist er auch wieder weg und die kurz ernst- und wahrgenommene Krankheit wird erneut vernachlässigt.
Aufmerksamkeit ist also in der richtigen Dosis gut, aber zu viel Interesse an der Krankheit schwächt die Betroffenen leider oft mehr als dass sie sie ihnen zu Gute kommt.
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