Wie in so manchen Lebensbereichen, herrscht auch im Gesundheitswesen bis heute eine Kluft zwischen Männern und Frauen vor: Als Maßstab vieler Studien gilt ein 75 Kilo schwerer Mann, sowohl bei der Erforschung bzw. Diagnose von Krankheitssymptomen als auch bei der Dosierung von Medikamenten. Diese geschlechterbezogene Lücke in der medizinischen Datenlandschaft, die sogenannte „Gender Health Gap“ (auch „Gender Data Gap“), mag zwar noch nicht so bekannt sein wie die „Gender Pay Gap“, hat jedoch oftmals noch viel weitreichendere bzw. schwerwiegendere Folgen für Betroffene. Es gilt daher, die vorherrschenden Disparitäten auszugleichen – und genau an diesem Punkt setzt die Gendermedizin an.
Von den Ansätzen der Gendermedizin
„In der Medizin haben wir noch immer das Problem, dass die Daten von Frauen und Männern nicht ausreichend differenziert betrachtet werden“, sagt Dr. Christiane Groß, Präsidentin des Deutschen Ärztinnenbundes. „Ganz viele Forschungsgrundlagen beziehen sich auf den sogenannten Norm-Mann.“ Dass andere Geschlechter allerdings eine andere Körperzusammensetzung, einen anderen Hormonhaushalt sowie andere soziale Interaktionen mit ihrem Umfeld haben und diese Entitäten große Unterschiede zwischen den Geschlechtern ausmachen, wurde die längste Zeit der Medizingeschichte nicht berücksichtigt bzw. als nicht relevant erachtet. Dabei reichen diese Unterschiede von Symptomen und Diagnosen bis hin zur Dosierung, Einnahmehäufigkeit sowie den Nebenwirkungen von Medikamenten.
Primäres Ziel der Gendermedizin ist es folglich, die biologischen und psychosozialen Unterschiede zwischen Männern und Frauen auszugleichen und Behandlungen zu optimieren. „Gendermedizin will beide Geschlechter betrachten. Die Fachrichtung untersucht sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten zwischen Mann und Frau“, so auch Dr. Julia Röper-Kelmayr, Leiterin des Instituts für Radiologie am Klinikum Rohrbach und aktives Mitglied der Ärztekammer Österreich im Referat Gender Mainstreaming.
Die Rolle der Sozialisierung
Da man sich in vielen Bereichen der Medizin lange ausschließlich auf das männliche Krankheitsbild konzentriert hat, basieren die Mehrheit der Studien auf Männerdaten. Daraus resultiert ein deutlich größeres Informationsangebot in der Medizin hinsichtlich männlicher Patienten, wodurch Krankheiten bei Frauen bis heute schlechter erkannt und nicht optimal behandelt werden. Behandlungsintervalle und Medikamente sind ebenso nicht geschlechtsspezifisch. Deswegen ist es umso wichtiger, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Frauen anders krank werden als Männer, sowohl physisch als auch psychisch.
„Neben der Biologie spielt auch der psychosoziale und soziokulturelle Aspekt eine Rolle“, erläutert die Internistin Dr. Alexandra Kautzky-Willer, die sich auf Endokrinologie und Stoffwechsel spezialisiert hat und zu Gendermedizin forscht. Letztere beschäftigt sich mit gesellschaftlichen Normen sowie Fragen der Rollenzuschreibung, der Kultur, der Verteilung von Aufgaben und Pflichten sowie der Stressbelastung. Diverse Eigenschaften, Wesenszüge und Verhaltensmerkmale werden nach wie vor pauschal und stereotypisch dem männlichen oder weiblichen Geschlecht zugeschrieben, ein Beispiel hierfür wäre die Tatsache, dass das Äußern von Schmerzen sowie die Verbalisierung von Trauer bei Frauen eher akzeptiert werden als bei Männern.
Eine kurze Geschichte der „Gender Health Gap“
Um die Schlechterstellung von Frauen im medizinischen bzw. gesundheitlichen Bereich in ihrer Gänze zu verstehen, lohnt sich ein historischer Exkurs in die Geburtsstunde der modernen Medizin: Frauen wurden für lange Zeit von klinischen Studien, die die Erforschung und Zulassung neuer Medikamente zum Ziel hatten, bewusst ausgeschlossen. Das Risiko, dass hormonelle Schwankungen das Ergebnis beeinflussen würden oder eine eventuelle Schwangerschaft zum Ausscheiden der Probandinnen führen könnte, wurde als zu hoch eingestuft. Erst ab Mitte der 1990er Jahre wurden Frauen vermehrt in Studien einbezogen, wie eine Untersuchung aus dem Jahr 2001 belegt. Dies hängt vermutlich auch damit zusammen, dass sich zu diesem Zeitpunkt in Deutschland die geschlechtergerechte Medizin als eigenes Fachgebiet zu etablieren begann.
Frauen ticken anders
Als Paradebeispiel für die Sichtbarmachung der „Gender Health Gap“ gilt der Herzinfarkt, da zu dieser Herz-Kreislauf-Erkrankung sicheres Wissen sowie eine ausgeprägte Datenlage vorliegen: Eine Studie der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie zeigt, dass Herzinfarkte bei Männern zu 20 Prozent, bei Frauen jedoch zu 28 Prozent tödlich enden. Bei ersteren kündigt sich ein Infarkt oftmals durch Schmerzen in der Brust, im Hals sowie im linken Arm an. Frauen berichten hingegen eher von Schwindel, Übelkeit und Schmerzen in der Magengegend. Gefäßerkrankungen können in diesem Zusammenhang ebenfalls genannt werden, da es bei Frauen seltener zur Einnahme von Medikamenten zur Verbesserung der Durchblutung oder einer Thromboseprophylaxe kommt. Bei Frauen mit Bluthochdruck treten zudem häufiger Organschäden, wie etwa Störungen der Nierenfunktion, auf.
Weiters erleiden europaweit mehr Frauen als Männer Schlaganfälle, wobei männliche Symptome wie die einseitige Lähmung abermals besser erforscht sind. Weibliche Krankheitszeichen wie z.B. Brust- oder Kopfschmerzen werden oftmals als harmlose Migräne-Attacke kategorisiert, wodurch Patientinnen erst später in die Notaufnahme kommen. Als aktuelles Beispiel in Sachen geschlechterbezogene Medizin kann COVID-19 genannt werden, da anhand des SARS-CoV-2-Virus hätte gezeigt werden können, dass in Bezug auf Mortalität und Infektionsgeschehen deutliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern vorherrschen sowie die Zuordnung zu einem Geschlecht sowie das soziokulturelle Geschlecht ebenfalls eine gewichtige Rolle in der Medizin einnehmen. Leider wurde auch hier versäumt von Beginn an geschlechterdifferenziert zu forschen.
Eine Medizin für alle!
Anhand der aufgeführten Beispiele soll gezeigt werden, dass es das Ziel der Medizin sein müsste die nötigen Grundlagen zu schaffen, damit das Geschlecht in der Forschung und Praxis abgefragt werden kann. Als essentielle Größen könnten hier beispielsweise das Alter oder der hormonelle Status klassifiziert werden – egal, ob es sich dabei um eine Transperson oder eine Frau nach der Menopause handelt. Zudem muss dafür gesorgt werden, dass Gendermedizin endlich ihren Einzug in die Universitäten mittels eigener Lehrstühle, Gremien sowie der Verteilung von Forschungsgeldern erhält. All das würde dafür sorgen, dass geschlechtsspezifische Unterschiede in den diversen (Sub-)Disziplinen der Medizin sukzessive identifiziert würden, und somit allen Geschlechtern das Recht auf eine adäquate medizinische Behandlung gewährleistet würde.
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