Mehr denn je verbindet man zurzeit mit dem Begriff Virus etwas Negatives. Viren gelten als Eindringlinge, bringen Krankheiten und sind im Allgemeinen nicht gern gesehen. Doch nun zeigt ein Forschungsteam, dass sie auch eine wichtige Rolle bei der Evolution von Säugetieren spielen. Sind Viren doch bedeutender als gedacht?
Opportunisten vom Dienst
Viren sind wahre Überlebenskünstler – Sie benötigen aber einen Wirt, der ihnen dies ermöglicht. Denn Lebewesen im eigentlichen Sinne sind sie nicht, sondern lediglich Proteinstrukturen, wandelnde Gene ohne eigenen Stoffwechsel. Um sich vermehren zu können, infizieren sie die Zellen von Lebewesen wie auch dem Menschen. Und manche dieser Viren (sogenannte endogene Retroviren) schmuggeln dabei ihr eigenes Erbgut in das der Wirtszelle ein. Dort verankert wird es von Mensch, Affe oder Fledermaus an die nächste Generation weitergegeben. Auch der HIV-Erreger gehört übrigens zu dieser Virenart.
Konkret bedeutet das: Viren können sich tatsächlich in unser Genom einbauen und das Erbgut dadurch verändern. Insgesamt sind rund 8 Prozent des menschlichen Erbguts Überreste oder Bruchstücke von Viren, die irgendwann einmal dort eingebaut wurden! Heute haben sie unter anderem als Gene wichtige Funktionen für unseren Körper. Manchmal kommt es jedoch auch zu Mutationen; so etwa bei der „Bluterkrankheit“, wo ein für die Blutgerinnung notwendiges Protein fehlt.
Viren bestimmen mit, welche Gene zum Ausdruck kommen
Eine bereits im pre-print erschienene Studie von amerikanischen und japanischen Forschenden zeigt nun einmal mehr, dass Retroviren eine große Rolle in der Evolution von Säugetieren spielen. Denn sie beeinflussen nicht nur die Weitergabe von Erbinformation, sondern auch deren Genexpression.
Einen besonderen Stellenwert hat dabei die sogenannte Keimbahn. Denn dort ist die gesamte Abfolge des Erbguts festgelegt. Die Infektion dieser Keimbahn durch Retroviren bringt neue Gene mit hinein und sorgt außerdem auch für eine unterschiedliche Gewichtung der vorhandenen. Denn nicht alle veranlagten Gene werden auch ausgedrückt, also „ausgelebt“. Die Forschenden zeigten, dass in der Keimbahn verankerte Retroviren aus früheren Generationen dort als sogenannte Enhancer fungieren. Sie sorgen dafür, dass bestimmte Abschnitte der DNA eine höhere Relevanz bei der Ablesung bekommen als andere – neu entwickelte Gene können so schneller zum Ausdruck kommen. Das bedeutet auch, dass wir uns unter Umständen schneller an veränderte Umweltbedingungen anpassen können. Diese Prozesse waren und sind sehr hilfreich besonders bei der artspezifischen Evolution.
Doch nicht so schlecht?
Haben Viren ihren schlechten Ruf also nicht verdient? Natürlich sind sie trotz allem Schmarotzer und dem aktuellen Coronavirus kann man wohl nichts Gutes abgewinnen. Aber evolutionstechnisch gesehen haben Viren stark dazu beigetragen, dass sich der Mensch so entwickelt hat, wie er heute ist. Ohne sie hätten wir wohl manche Gene gar nicht, unser Immunsystem wäre längst nicht so leistungsfähig und vielleicht gäbe es keine zwei Geschlechter. Denn auch das kommt den Viren zugute: Beim Verschmelzen von Ei- und Samenzelle vermischt sich das Erbmaterial von zwei Individuen und auf lange Sicht das genetische Erbgut der Bevölkerung. Für die Viren bedeutet das, dass manche Menschen besser mit Erregern fertig werden als andere und somit weiterhin als Wirt dienen können. Egoistisch – aber für uns auch nicht ganz unpraktisch.
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