Mittlerweile dürfte relativ klar sein, dass wir das Coronavirus noch eine ganze Weile am Hals haben werden – manche Forscher gehen gar davon aus, dass SARS-CoV-2 uns dauerhaft erhalten bleiben wird. Mutationen aus Großbritannien, Südafrika oder Indien spielen in der Ausbreitung des Virus eine besonders große Rolle: Mittlerweile tragen über 100 mutierte Variationen dazu bei, dass sich COVID-19 nach wie vor durchsetzen kann.
Verzehnfachung der Coronavirus-Mutanten
Im April 2020 gab es etwa zehn dominante Mutationen des neuartigen Coronavirus, ein knappes Jahr später hatte sich die Anzahl der verschiedenen geläufigen Varianten des Erregers bereits auf stolze 100 erhöht. Jene Ergebnisse konnten durch eine umfassende Genomanalyse von Forschenden des Universitätsklinikums Erlangen bestätigt werden. Das Team um Dr. Stefanie Weber und Dr. Walter Doerfler vom Virologischen Institut für klinische und molekulare Virologie beobachtete das Auftreten von Virusmutationen seit Anfang der Pandemie in vorab definierten Zeitintervallen. Folgende 10 Länder wurden dabei genauer unter die Lupe genommen:
- Großbritannien, Frankreich, Spanien, Deutschland (Europa)
- Russland, Indien, China (Asien)
- Südafrika (Afrika)
- USA, Brasilien (Nord- & Südamerika)
Die Forscher aus Erlangen arbeiteten eng mit US-amerikanischen Fachleuten von der University of California und der UCLA Fielding School of Public Health in Los Angeles zusammen.
Sind Mutationen wirklich gefährlicher?
Durch die unkontrollierte und rapide Vermehrung von SARS-CoV-2 haben sich zahlreiche Mutanten und Varianten des Virus herausgebildet. Falls es nicht gelingt die Ausbreitung flächendeckend einzudämmen, so könnte dieser Vorgang auch trotz Impfung weiter voranschreiten. Dabei ist besonders problematisch, dass bisher noch wenig darüber bekannt ist, ob eine Infektion mit spezifischen SARS-CoV-2-Mutanten auch den Schweregrad der COVID-19-Erkrankung beeinflusst. Ende April 2021 verfolgte das Team mit Bestürzung die Explosion der Corona-Fallzahlen in Indien, wobei täglich mehr als 350.000 Erkrankte und 2.800 Tote verzeichnet wurden. „Die bisher bekannten Virusvarianten könnten ansteckender und auch potenziell krankmachender sein als das ursprüngliche Virus aus Wuhan.“, schätzt Dr. Weber die Lage ein.
Auffälligkeiten im Basenaustausch bei Mutation
Im Zuge seiner aktuellen Arbeit analysierte das Team weltweit mehr als 380.500 RNA-Sequenzen des SARS-CoV-2-Erregers hinsichtlich verschiedener Varianten und Mutationen. Außerdem erforschten die Fachleute über 1.700 dieser Sequenzen im Speziellen auf Veränderungen bei den Virusproteinen. Ermöglicht wurde das durch die Wissenschaftsplattform GISAID (größte öffentliche Sequenzdatenbank für Influenzaviren), welche freien Zugang zu Genomen liefert. Die Entwicklungen des Erregers wurden nicht nur länderspezifisch, sondern auch in vier verschiedenen Zeiträumen aufgezeichnet:
- Januar 2020 bis April/Mai 2020
- April/Mai 2020 bis Juli/August 2020
- Juli/August 2020 bis Dezember 2020
- Dezember 2020 bis März/April 2021
Die Detailanalyse erbrachte einen äußerst interessanten Hinweis: Mehr als 50 Prozent aller Mutationen entstanden durch einen Austausch der Basen Cytosin (bindet mit Guanin) und Uracil (bindet mit Adenin) im RNA-Genom. Das Virus hat es also offenbar geschafft einen Schutzmechanismus der menschlichen Zellen zu seinen Gunsten auszunutzen: Experten vermuten, dass möglicherweise das APOBEC-System (Proteinfamilie: Bestandteil der angeborenen antiviralen Immunität; Abwehr von Retrovirus-Infektionen) betroffen ist. Alle Ergebnisse wurden kürzlich im englischsprachigen Fachblatt „EMBO Molecular Medicine“ veröffentlicht.
Pandemie als langfristiger Begleiter?
Eine rasante Ausbreitung lässt Mutanten nicht nur entstehen – umgekehrt tragen die Mutationen auch dazu bei die Vermehrung von SARS-CoV-2 geschickt voranzutreiben. Die enorme Effizienz der Mutagenese des Coronavirus trägt damit zu einem Teufelskreis bei, welcher langfristig erhebliche Probleme in der Entwicklung von Therapie- und Impfprogrammen bereiten kann. „Wahrscheinlich wird SARS-CoV-2 für längere Zeit ein gefährlicher Begleiter für uns bleiben“, so Dr. Doerflers Einschätzung. Auch eine zweite Möglichkeit wäre laut Experten denkbar: Infolge der extremen Mutationsbildung könnte das Ausbreitungssystem des Virus allmählich erschöpfen und SARS-CoV-2 die Vermehrungsfähigkeit verlieren. So erfreulich dieses Szenario auch wäre, so unwahrscheinlich ist es aufgrund fehlender Hinweise.
Pandemie-Eindämmung ist Kampf gegen die Zeit
Besonders problematisch ist das Fehlen systematischer Sequenzierungstechniken. Da nur die wenigsten SARS-CoV-2-RNA-Proben genetisch analysiert werden, kann die Bedeutung der bekannten Mutanten für das Infektionsgeschehen nicht ausreichend festgestellt werden. Die Weiterentwicklung von Impfstoffen und Therapiemöglichkeiten ist jedoch darauf angewiesen Virusvarianten und -mutationen genau nachvollziehen zu können. Aus diesem Grund wäre es empfehlenswert schnellere PCR-Tests zu entwickeln und flächendeckend einzusetzen. Zudem muss unbedingt die Immunisierung forciert werden: Verzögern sich die Impfungen weiter, so könnten sich gefährliche Mutanten erneut durchsetzen und den Impferfolg auf lange Sicht ernsthaft infrage stellen. „Wir möchten keine Panik machen, aber das Problem klar benennen und aufzeigen, was da gerade passiert“, ergänzt Dr. Doerfler. Es ginge darum, schneller und effizienter zu handeln, um dem Virus endlich einen Schritt voraus zu sein.
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