Die dramatischen Zahlen der Corona-Intensiv-Patienten bereiten bereits seit 2020 vielen Menschen große Sorgen. Die Gründe für einen gravierenden Verlauf gelten bislang immer noch nicht als eindeutig geklärt. Forschern zufolge sind ausgeprägte Beschwerden nicht nur auf das Virus allein zurückzuführen: Aktuelle Studien legen den Fokus auf fehlgeleitete Immunreaktionen, die sich negativ auf die menschlichen Abwehrmechanismen auswirken.
Lungenschäden durch Seneszenz?
Um mehr über die Hintergründe entgleister Immunreaktionen herauszufinden, führte ein deutsches Forschungsteam umfangreiche Analysen durch. Im Verlauf der Experimente stießen die Forscher auf eine bedeutende Stressreaktion, die derartige Fehlfunktionen des Immunsystems begünstigt: die Seneszenz. Darunter wird ein biologisches Phänomen verstanden, bei dem sich die natürliche Zellteilung meist aufgrund zunehmenden Alters einstellt. Weitere Untersuchungen im Tiermodell offenbarten, dass anti-seneszente Arzneimittel sowohl covidbedingten Lungenschäden als auch Entzündungen entgegenwirken. In Anbetracht der vielversprechenden Resultate erhoffen sich die Fachleute auch für den Menschen bald effektive Therapiekonzepte anbieten zu können.
Ambivalente Wirkung
Obwohl Seneszenz in erster Linie mit dem Alterungsprozess in Verbindung steht, so fungiert sie gleichermaßen als wichtiger Schutzmechanismus bei Stresssituationen oder drohenden Zellschäden. Durch die Unterbrechung der Zellteilung wehrt sich der Organismus gegen die Ausbreitung gefährlicher Neubildungen im Körpergewebe und trägt somit zur körpereigenen Krebsprävention bei. Darüber hinaus sind seneszente Zellen maßgeblich an der Wundheilung beteiligt, indem sie entzündungsfördernde Botenstoffe absondern. Trotz der zahlreichen wichtigen Funktionen bergen die Zellen im Überschuss auch ernstzunehmende gesundheitliche Gefahren, da sie zur Entwicklung altersbedingter Erkrankungen wie Gefäßverkalkung oder Diabetes beitragen. Einer potenziellen Korrelation zwischen diesem biologischen Phänomen und viralen Infektionen wurde bislang kaum Beachtung geschenkt.
Laut einer aktuellen Studie sei dieser Mechanismus allerdings von höchster Relevanz, da er schwerwiegende Entzündungsreaktionen sowie Lungenerkrankungen bei einer Covid-19-Infektion hervorruft. „Diese entzündliche Überreaktion frühzeitig mit spezifischen Wirkstoffen zu unterbrechen, hat in unseren Augen großes Potenzial, eine neue Strategie zur Behandlung von Covid-19 zu werden“, betont der renommierte Onkologe und Studienleiter Dr. Clemens Schmitt.
Verhängnisvolle Entzündungskette
Den Wissenschaftlern zufolge leitet die zelluläre Stressreaktion eine folgenschwere Entzündungskette ein, die in teils fatalen Lungenschäden resultiert. Am Anfang dieses verheerenden Prozesses stehen die SARS-CoV-2 befallenen Zellen der oberen Atemwege. Sobald die Erreger mit den Schleimhautzellen in Kontakt geraten, verursachen diese angesichts der stressauslösenden Situation eine Seneszenz. Zur Sicherstellung des zelleigenen Schutzes produzieren die Mukosezellen anschließend reichlich entzündungsfördernde Stoffe, die wiederum die Aufmerksamkeit gewisser Abwehrzellen, der sogenannten Makrophagen, erregen. Um die seneszenten Zellen zu eliminieren, dringen die Makrophagen in die Schleimhäute ein. Dort sehen sie sich allerdings gleichermaßen mit seneszenten Botenstoffen konfrontiert, wodurch sie ebenfalls eine große Menge an entzündungsfördernden Stoffen emittieren.
Äußerst gefährlich erweist sich dieser Vorgang dann, wenn die Immunzellen in die Lunge geraten und dort weitere Zell-Seneszenzen auslösen. Als besonders anfällig gelten die kleinen pulmonaren Blutgefäße, die die Innenwand des Atmungsorgans auskleiden. Sobald die Arterien in den Prozess involviert sind, beginnen sie blutverklumpende Substanzen freizusetzen – verhängnisvolle Mikrothrombosen entstehen, die den Sauerstoffaustausch wesentlich beeinträchtigen.
Potenzielle Wirkstoffe untersucht
„Offenbar ist das zelluläre Stressprogramm der Seneszenz ein sehr wichtiger Treiber eines Entzündungssturms, der eine Vielzahl charakteristischer Merkmale der Covid-19-Lungenentzündung, wie Gefäßschädigungen oder Mikrothrombosen, maßgeblich verursacht“, erläutert Dr. Soyoung Lee, Erstautorin der Studie und anerkannte Onkologin. „Da lag es nahe zu prüfen, ob wir den Verlauf der Erkrankung abmildern können, wenn wir die durch das Virus seneszent gewordenen Zellen frühzeitig attackieren“, berichtet die Expertin. Im Tiermodell analysierte das Team die genauen Auswirkungen von vier Wirkstoffen, die sich gezielt gegen seneszente Zellen wenden: Navitoclax, Fisetin, Quercetin und Dasatinib. Zwei dieser Pharmazeutika wurden auf pflanzlicher Basis entwickelt und bewähren sich aktuell unter anderem in der Krebstherapie.
Sowohl eigenständig als auch in Kombination konnte bei sämtlichen Substanzen ein entzündungshemmender Effekt festgestellt werden, der sich darüber hinaus positiv auf die Funktionsfähigkeit der Lunge auswirkte. Vorliegende Studienergebnisse zu dieser Thematik ermöglichten den Forschern im Rahmen ihrer Evaluierung noch weitere relevante Faktoren zu berücksichtigen. Nach eingehender Analyse aller verfügbaren Daten kamen die Forscher zu der Erkenntnis, dass sich insbesondere eines der vier untersuchten Arzneimittel für eine medikamentöse Behandlung von Covid-19 beim Menschen eignen würde.
Vielfältiges Therapiepotenzial
Das Forschungsteam zeigt sich äußerst zufrieden mit den erzielten Ergebnissen. Um mehr Informationen über potenzielle Nebenwirkungen, die korrekte Dosierung und die Verabreichungsdauer zu erhalten, seien allerdings noch umfangreichere klinische Studien erforderlich. Obwohl die Experten ihr Augenmerk derzeit auf die Bekämpfung der Coronapandemie legen, sehen sie in dieser Behandlungsstrategie darüber hinaus großes Potenzial für die Therapie anderweitiger viraler Infekte. „Unsere Studie hat gezeigt, dass verschiedene Zelltypen nicht nur nach einer Infektion mit SARS-CoV-2, sondern auch mit ganz anderen Viren Seneszenz auslösen“, resümiert Dr. Lee. „Wir hoffen deshalb, dass unsere Erkenntnisse auch für andere Infektionskrankheiten relevant sind, bei denen die Immunreaktion für den Krankheitsverlauf eine große Rolle spielt.“
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