Viren mutieren bekanntlich, um der Immunreaktion des menschlichen Körpers besser ausweichen zu können. Gebildete Antikörper aus vergangenen Infektionen werden damit unwirksamer, eine erneute Infektion ist meist die Folge. Am besten konnten das bisher Influenzaviren, aber auch Coronaviren machten durch die britische, südafrikanische und brasilianische Mutante und deren rasche Verbreitung hierzulande Schlagzeilen. Bisher gingen Forscher von einer hohen Zahl an Mutationen aus. Eine aktuelle Studie der Charité – Universitätsmedizin Berlin kommt jedoch auf ein weitaus niedrigeres Ergebnis.
Meister der Wandlung
Influenzaviren haben sich seit deren Existenz mehr und mehr ihrem menschlichen Wirt angepasst. Dadurch verändern sie sich derart schnell, dass Antikörper des Immunsystems sie schon nach einem Jahr etwa nicht mehr erkennen können. Daher ist jährlich eine Auffrischung mit dem an die neuen Mutationen angepassten Impfstoff nötig. Mit Coronaviren verhält es sich ähnlich, blickt man auf die bisherige Entwicklungsgeschichte der Pandemie und der harmloseren Variante, die Erkältungssymptome verursacht. Dabei gibt es einerseits stille Mutationen, die sich nicht auf die codierten Proteine auswirken und andererseits die bekannteren nicht-synonymen Mutationen, die auch das Erscheinungsbild des Virus verändern. Durch verschiedene Bedingungen, wie beispielsweise die Immunität in der Bevölkerung und die Höhe der Infektionsrate, werden außerdem sogenannte „Fluchtmutationen“ begünstigt, die noch gefährlicher als die bisherigen Varianten sein können.
Analyse vergangener Entwicklungen
Um genau einschätzen zu können, wie sich das Mutationsgeschehen bei Coronaviren entwickelt, wurden die Stammbäume von vier harmloseren Varianten analysiert. Diese verursachen 10 Prozent der weltweiten Erkältungen und zirkulieren bereits weitaus länger in der Menschheit als SARS-CoV-2. Deren Angriffsmethode gestaltet sich aber ähnlich: Beide Virenarten nutzen das Spike-Protein, um am menschlichen Organismus andocken zu können. Impfstoffe richten sich ebenfalls an diese Andockstelle des Virus. Besonders interessant für das Forscherteam waren die Varianten 229 E und OC43, deren Mutationsgeschichte über die letzten 40 Jahre am detailliertesten aufgezeichnet wurde. Auch der Influenza-Stamm H3N2 wurde in die Analyse eingebunden, da er sich bisher außerordentlich effizient in der Anpassung zeigte.
Ausgeprägte Treppenform erkennbar
Die berechneten Stammbäume hatten im Vergleich vor allem eine ausgeprägte Treppenform gemeinsam. „Ein solch asymmetrischer Stammbaum bedeutet, dass eine zirkulierende Viruslinie regelmäßig durch eine andere ersetzt wird, weil diese einen Überlebensvorteil hat“, ergänzt dazu Dr. Wendy K. Jó, Erstautorin der Studie vom Institut für Virologie der Charité. Das zeige den Antigen-Drift, der durch die kontinuierliche Veränderung der Oberflächenstruktur entsteht. Damit entziehen sich Viren der menschlichen Immunreaktion und werden somit infektiöser. Ein wichtiger Faktor ist dabei die Geschwindigkeit, mit der diese Anpassungen von statten gehen. Influenzaviren kommen so im Jahr auf 25 Mutationen, Coronaviren jedoch nur auf sechs. „Das ist mit Blick auf SARS-CoV-2 eine gute Nachricht“, fasst Prof. Dr. Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie und Wissenschaftler des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) zusammen.
Infektionsgeschehen entscheidend
Derzeit liegt die Evolutionsgeschwindigkeit von SARS-CoV-2 bei rund zehn Mutationen im Jahr. „Diese schnelle genetische Veränderung von SARS-CoV-2 spiegelt sich in dem Aufkommen vieler verschiedener Virusvarianten weltweit wider“, meint Prof. Dr. Jan Felix Drexler, Leiter der Studie vom Institut für Virologie und DZIF-Forscher. „Der Grund dafür liegt aber hauptsächlich in dem hohen Infektionsgeschehen während der Pandemie: Wo es viele Infektionen gibt, kann sich ein Virus auch schneller weiterentwickeln. Auf Basis der Evolutionsraten der heimischen Erkältungscoronaviren gehen wir davon aus, dass sich auch SARS-CoV-2 langsamer verändern wird, sobald das Infektionsgeschehen abebbt – also nachdem ein Großteil der weltweiten Bevölkerung entweder durch die Erkrankung selbst oder durch eine Impfung einen Immunschutz aufgebaut hat“, so Drexler weiter. Das würde im Endeffekt bedeuten, dass Impfstoffe regelmäßig während der Pandemie überprüft und angepasst werden müssen. Nach Stabilisierung der Situation werden sich diese Zeiträume aber weiter verlängern und Impfungen somit länger nutzbar sein.
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