Immer mehr Menschen stecken sich mit Covid-19 an und/oder erhalten eine Impfung. Laut Fachleuten ist eine Herdenimmunität jedoch nur schwer oder gar nicht zu erreichen.
Herdenimmunität wahrscheinlich unmöglich
Die Impfungen gegen Covid-19 nehmen weltweit immer weiter zu. Es stellt sich die Frage, wie lange die Pandemie noch anhält. Viele Menschen hoffen, dass irgendwann genug Personen gegen das Coronavirus immun sind und eine Herdenimmunität erreicht wird. Doch dass es soweit kommt, scheint unwahrscheinlich zu sein: Schon kurz nach dem Beginn der Corona-Pandemie tauchte die Frage auf, wann es soweit sein wird, dass uns eine Herdenimmunität schützen kann. Fachleute meinen, dass dies wohl nie der Fall sein wird.
Die meisten Schätzungen gehen davon aus, dass der Herdenschutz erreicht wird, wenn etwa 60–70 Prozent der Bevölkerung entweder durch Impfungen oder durch eine bereits überstandene Infektion immun sind. Dieses Denken hat sich mittlerweile geändert. Nach dem unabhängigen Datenwissenschaftler Youyang Gu ist das Erreichen einer Herdenimmunität unwahrscheinlich. Auch Epidemiologin Lauren Ancel Meyers von der University of Texas berichtet: „Wir entfernen uns von der Idee, dass wir die Schwelle der Herdenimmunität erreichen und dann die Pandemie endgültig verschwinden wird.“
Impfstoffe werden das Virus nicht verschwinden lassen
Die von Moderna und BioNTech/Pfizer entwickelten Covid-19-Impfstoffe sind äußerst wirksam bei der Vorbeugung symptomatischer Erkrankungen. Es ist jedoch noch unklar, ob sie Geimpfte vor einer Infektion oder Andere vor einer Ansteckung schützen. Das ist ein Problem hinsichtlich der angestrebten Herdenimmunität: „Die Herdenimmunität ist nur relevant, wenn wir einen Impfstoff haben, der die Übertragung blockiert. Wenn dies nicht der Fall ist, besteht die einzige Möglichkeit, eine Herdenimmunität in der Bevölkerung zu erreichen, darin, allen den Impfstoff zu verabreichen“, sagt Shweta Bansal, Biomathematikerin an der Georgetown University in Washington DC.
Die Verteilung von Impfstoffen ist daher von immenser Bedeutung. Laut Matt Ferrari, Epidemiologe am Center for Infectious Disease Dynamics der Pennsylvania State University, hätte eine perfekt koordinierte globale Kampagne Covid-19 theoretisch auslöschen können. „Es ist technisch machbar, aber in Wirklichkeit ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir dies auf globaler Ebene erreichen“, so der Experte. Es gibt nämlich große Unterschiede bei der Einführung von Impfstoffen zwischen den Ländern: Libanon, Syrien, Jordanien und Ägypten haben beispielsweise noch nicht einmal ein Prozent ihrer jeweiligen Bevölkerung geimpft. Selbst in einem Land mit hohen Impfraten wie Israel bleibt das Potenzial für neue Ausbrüche bestehen, wenn die umliegenden Länder nicht viel geimpft haben und die Bevölkerung sich vermischen kann.
Mutationen machen Strich durch die Rechnung
Auch neu auftretende Virusvarianten stören das Entstehen einer Herdenimmunität. „Wir sind in einem Rennen mit den neuen Varianten“, sagt Sara Del Valle, Epidemiologin am Los Alamos National Laboratory in New Mexico. Die Unwahrscheinlichkeit einer Herdenimmunität heißt nicht, dass Impfungen nutzlos sind. Da aber dauernd neue Varianten des Virus entstehen und die Immunität gegen Infektionen nachlassen könnte, befinden wir uns möglicherweise auch noch in Monaten oder Jahren im Kampf gegen die Bedrohung Coronavirus. Es ist daher wahrscheinlich, dass Covid-19, ähnlich wie Influenza, zu einer endemischen Krankheit wird. Wissenschaftler gehen von einer neuen „Normalität“ aus, die keine Herdenimmunität beinhaltet.
Mit dem Virus leben?
Laut Stefan Flasche, Impfstoff-Epidemiologe an der London School of Hygiene & Tropical Medicine, „wird es eher unwahrscheinlich sein, dass die Herdenimmunität allein durch Impfstoffe erreicht wird.“ Es sei somit Zeit für realistischere Erwartungen. Es sei unwahrscheinlich, dass die Ausbreitung vollständig gestoppt wird. Deshalb müssen wir uns überlegen, wie wir mit dem Virus leben können, meint der Experte. Dies sei aber nicht so düster, wie es sich anhört. Selbst ohne Herdenimmunität scheint die Maßnahme, schutzbedürftige Menschen zu impfen, Krankenhausaufenthalte und Todesfälle durch Covid-19 zu verringern. Die Krankheit wird möglicherweise nicht so schnell verschwinden, aber ihre Bedrohung wird mit großer Wahrscheinlichkeit nachlassen.
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