Seit dem Anfang der Coronapandemie vor zwei Jahren versuchen Wissenschaftler ihren Verlauf vorherzusagen. Schon früh entwickelte sich der Konsens, dass das Virus uns wohl nicht mehr verlassen, sondern zu einem endemischen Erreger mutieren würde. Viele Virusvarianten später stellt die Welt sich die Frage: Wie lange geht das noch so weiter? In einem Artikel im Fachjournal „Nature“ erklärt Wissenschaftsjournalist Ewen Callaway die bisherige Evolution von SARS-CoV-2 und zieht daraus Schlüsse für die Zukunft.
Von den Vorgängern lernen
Neben dem Covid-19-auslösenden Virus SARS-CoV-2 gibt es noch vier andere Coronaviren, die immer wieder für saisonale Erkältungswellen verantwortlich sind. Eins von ihnen, das Coronavirus 229E, untersuchte Jesse Bloom, Evolutionsbiologe am Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle, Washington, genauer. Dieses Virus schafft es, die Immunität bereits Genesener zu unterwandern und infiziert Menschen so mehrmals im Leben. „Jetzt, wo wir fast zwei Jahre Zeit hatten, um zu sehen, wie sich SARS-CoV-2 entwickelt, denke ich, dass es klare Parallelen zu 229E gibt“, sagt Bloom.
Zwei Kategorien an Mutationen
Experten, die die Entwicklung von SARS-CoV-2 beobachten, rechnen mit Mutationen, die sich grob in zwei Kategorien einordnen lassen: Verbesserungen der Infektiosität und Übertragbarkeit oder ein erhöhter „Immunescape“. Da eine solche Immunflucht in einer Bevölkerung, die noch gar keine Immunität besitzt, keinen Vorteil bringt, rechneten Wissenschaftler zunächst vor allem mit Mutationen, die das Virus infektiöser machten. Sie sollten Recht behalten: Alpha, Beta und Gamma, die drei „Variants of Concern“, die Ende 2020 und Anfang 2021 auftauchten, nutzen allesamt Mutationen, die ein verbessertes Eindringen in menschliche Zellen ermöglichen. Zusätzlich zu dieser erhöhten Übertragbarkeit zeigten aber Beta und Gamma auch Mutationen, die auf eine gewisse Immunflucht hinwiesen.
„Delta kam aus heiterem Himmel“
Die drei Varianten verbreiteten sich schnell auf der ganzen Welt. Da Alpha die höchste Übertragbarkeit aufwies, erwarteten Experten, dass sich von dieser Variante Mutationen zur Immunflucht entwickeln würden. „Das war absolut nicht der Fall“, sagt Professor Dr. Paul Bieniasz, Virologe an der Rockefeller University in New York City. „Auch Delta kam aus heiterem Himmel.“ Im Frühjahr 2021 wurde die neue, hochinfektiöse Variante in Indien entdeckt. Das Virus hatte sich so weiterentwickelt, dass es sich noch schneller und effektiver in menschlichen Atemwegen vermehren konnte. Im Vergleich zu Alpha ist die aktuell noch dominierende Delta-Variante 60 Prozent infektiöser. „Delta ist so etwas wie ein Super-Alpha“, sagt Wendy Barclay, eine Virologin am Imperial College London.
Trade-Off zwischen Infektiosität und Schweregrad
Andere Viren machen normalerweise keine Sprünge, wie wir sie in den vergangenen zwei Jahren am Coronavirus beobachten konnten. Evolutionsbiologe Trevor Bedford erklärt, dass das Virus eine Balance finden muss zwischen Replikationsgeschwindigkeit und Schweregrad der Krankheit: „Das Virus will niemanden ans Bett fesseln und ihn so krank machen, dass er keinen Kontakt zu anderen Menschen hat.“ Letztendlich wird es einen Trade-Off geben zwischen der Menge an Virus, die produziert werden kann, und der Geschwindigkeit, mit der das Immunsystem aktiviert wird. Daher besteht die Annahme, dass infektiösere Viren weniger virulent sind. Das sei allerdings ein Mythos, erklärt Andrew Rambaut, Evolutionsbiologe an der Universität von Edinburgh, UK: „Die Realität ist weitaus komplexer.“
Omikron ist „Wild Card“
Das Auftauchen der Omikron-Variante überrascht die Experten erneut: „Die meisten von uns haben erwartet, dass die nächste seltsame Variante ein Kind von Delta sein würde, und dies ist eine Art Wild Card“, sagt Aris Katzourakis, ein Spezialist für virale Evolution an der Universität Oxford, Großbritannien. Omikron scheint sowohl über einen Fitness-Vorteil gegenüber Delta als auch über eine gewisse Immunflucht zu verfügen. Trotzdem ist nicht alle Hoffnung verloren: Immunität durch überstandene Erkrankung oder Impfung ist in diesem Fall zwar reduziert, nicht aber komplett wirkungslos. Vor allem gegen schwere Verläufe bieten Impfungen trotz der vielen Mutationen von Omikron noch guten Schutz. Außerdem kommt es auch hier wieder zu einem Trade-Off: Je mehr das Virus sich an dieser Stelle verändert, desto schlechter bindet es an den ACE2-Rezeptor in menschlichen Zellen.
Es bleibt spannend
Für die weitere Entwicklung von SARS-CoV-2 gibt es verschiedene mögliche Szenarien. So könnte es sich ähnlich wie das Coronavirus 229E, das RS-Virus, Influenza A oder Influenza B verhalten. Leider könnte sich die Pandemie aber auch ganz anders entwickeln, erklärt Rambaut: Aufgrund der ungleichen Verteilung von Impfstoffen auf der Welt und schlechter Kontrollmaßnahmen in einigen wohlhabenden Ländern sind auch weitere unerwartete Sprünge in der Evolution von SARS-CoV-2 möglich. „Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie sich das Virus entwickeln kann“, sagt Rambaut, „noch hat es sich nicht festgelegt.“
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