Eine Infektion mit dem HI-Virus galt lange Zeit als grauenvolle Diagnose, die mit Scham, Ressentiments und Vorurteilen behaftet war. Dank dem Fortschritt der modernen Medizin und damit einhergehend der Schöpfung wirksamer Medikamente, konnte HIV-Infizierten ein langes Leben in Gesundheit ermöglicht werden. Chancen auf vollständige Heilung bestanden bisher nicht, nun könnte ein Fall jedoch als regelrechter Meilenstein in die Medizingeschichte eingehen: Eine lateinamerikanische Frau konnte nach Angaben von Ärztinnen und Ärzten durch eine neuartige Stammzellentherapie erfolgreich von HIV geheilt werden.
Die „New Yorker Patientin“
Bei der Frau mittleren Alters, deren Identität noch nicht öffentlich bekannt gegeben wurde, wurde im Jahr 2013 HIV diagnostiziert. Vier Jahre später entwickelte sich bei ihr zudem eine myeloische Leukämie, woraufhin die behandelnden Ärztinnen und Ärzte ein zuvor noch nie eingesetztes Verfahren anwandten: eine „Haplo-/Nabelschnurtransplantation“. Dabei erhielt die Patientin eine Mischung aus den Stammzellen eines Verwandten und den Stammzellen aus der Nabelschnur eines Säuglings. Die Säuglingsstammzellen wiesen ein seltenes, natürlich vorkommendes Gen-Merkmal, das die menschlichen Zellen HIV-resistent macht, auf, das sogenannte CCR5-Gen. Dieses Gen macht es dem HI-Virus unmöglich, gesunde Zellen zu infiltrieren und den menschlichen Organismus mit HIV zu infizieren. Vorwiegend sollen Menschen nordeuropäischer oder kaukasischer Abstammung TrägerInnen des CCR5-Gens sein.
Nach erfolgter Transplantation nahm die Frau noch antiretrovirale Medikamente ein, die die HIV-Infektion in Schach halten sollten. Diese setzte sie jedoch vor rund 14 Monaten ab, und es konnte bisher kein Rückfall des Virus verzeichnet werden. „Die Viruskonzentration in ihrem Blut war während dieser ganzen Zeit nicht nachweisbar“, verkündete Yvonne J. Bryson, Spezialistin für pädiatrische Infektionskrankheiten an der David Geffen School of Medicine der UCLA-Universität, bei der Vorstellung ihrer Ergebnisse auf der „Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections“. Sie führte die Behandlung gemeinsam mit ihren KollegInnen Jingmei Hsu, Koen Van Besien und Marshall J. Glesby durch und leitete die Studie zu dem Fall, an dem insgesamt zehn Universitäten sowie Forschungsinstitute aus den USA beteiligt waren. Als eine weitere Besonderheit der „New Yorker Patientin“ kann das Ausbleiben der sogenannten Graft-versus-host Erkrankung (GvHD) nach der erfolgreichen Stammzellentransplantation genannt werden, eine systemische entzündliche Krankheit, bei der die Spenderzellen das Immunsystem der Empfänger angreifen.
Vergleichbare Fälle
WissenschaftlerInnen betreiben bereits seit einigen Jahren Forschung hinsichtlich der Behandlung von HIV mithilfe von Stammzellen. Im Jahr 2009 wurde der Fall des „Berliner Patienten“ bekannt, der auch an Leukämie erkrankt war und dessen HIV möglicherweise ebenso durch eine Transplantation von HIV-resistenten Stammzellen geheilt werden konnte. Bedauerlicherweise erlag er schlussendlich seiner Krebserkrankung. Gut zehn Jahre danach wurde die gleiche Prozedur beim „Londoner Patienten“, einem Mann aus Südamerika mit Hodgkin-Lymphom, angewendet, sowie bei einem Mann aus Düsseldorf, der sich seit seiner Transplantation im Jahr 2019 ebenfalls in einer HIV-Remission befinden soll. Da bei Letzterem jedoch noch keine vollständige Heilung des HI-Virus festgestellt werden konnte, wurde er von den Forschenden der Studie nicht als bereits geheilt klassifiziert.
Berichte über langfristige HIV-Remissionen wie diese lassen Hoffnung aufkommen, in näherer Zukunft ein wirksames Mittel gegen HIV zu entwickeln, jedoch sind auch sie mit Einschränkungen verbunden. Alle PatientInnen, einschließlich der „New Yorker Patientin“, erhielten die Transplantation als Teil einer Krebsbehandlung und nicht aufgrund ihrer HIV-Infektion. Dementsprechend ist es eher unwahrscheinlich, dass die Stammzellentransplantation in Zukunft großflächig als Behandlung für ansonsten gesunde Menschen mit HIV eingesetzt wird. Carlos del Rio, Professor für Medizin an der Emory University School of Medicine, erklärt es folgendermaßen: „Es handelt sich hierbei um keinen skalierbaren Eingriff. Das ist so, als würde man jemanden mit einer Rakete auf den Mond schicken: Das ist ebenfalls ein großartiger Schritt für die Wissenschaft, aber nicht die Art und Weise, wie wir uns auf der Erde fortbewegen werden.“
Ein Beweis, dass HIV geheilt werden kann
Obgleich das Stammzellentransplantationsverfahren weit davon entfernt ist, zur etablierten Standardtherapieform gegen HIV zu werden, stimmt der Fall der geheilten Frau optimistisch. „Eine Knochenmarktransplantation ist keine praktikable massentaugliche Strategie zur Heilung von HIV, aber sie stellt einen Beweis dafür dar, dass HIV geheilt werden kann“, zitiert die „Washington Post“ Sharon Lewin, Präsidentin der internationalen AIDS-Gesellschaft. Laut Bryson kann anhand des vorliegenden Falls ebenfalls festgemacht werden, dass HIV-Reservoirs ausreichend dahingehend abgebaut werden können, als dass reale Chancen auf Remission und Heilung bestehen.
Die Deutsche Aidshilfe zog im Jahr 2020 im Zuge der geglückten Therapie des „Londoner Patienten“ ähnliche Schlüsse. Eine Stammzellentransplantation bei HIV-PatientInnen bleibe eine Methode für Ausnahmefälle, da es sich dabei um einen riskanten Eingriff handle, der nur eingesetzt würde, wenn dringend erforderlich. Die Wirksamkeit von Arzneimitteln gegen das Virus sei lange bewiesen und für alle HIV-positiven Menschen geeignet. Die Medikamente würden die Viren zwar nicht zur Gänze aus dem Körper entfernen, aber ihre Vermehrung dauerhaft unterdrücken.
Was meinen Sie?