Die Schulschließungen im Frühjahr 2020 wegen der Corona-Pandemie haben die meisten Kinder und Jugendlichen ganz gut verkraftet, so Dr. Gerd Patjens, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am Kinderhospital Osnabrück. Während des zweiten Lockdowns hat die Zahl der psychisch kranken Kinder jedoch stark zugenommen. Kliniken verzeichnen immer mehr Fälle von Essstörungen und Depressionen.
Die psychische Gesundheit der Jugend leidet stark
Seit Sommer 2020 lässt sich beobachten, dass die psychische Gesundheit der Kinder und Jugendlichen rapide abnimmt, berichtet Patjens. „Als wieder Unterricht stattfand, fiel es einigen Jugendlichen schwer, wieder in den Alltag zurückzufinden. Wir hatten es mit einigen Fällen der Schulvermeidung zu tun, auch Drogenkonsum ist wieder ein größeres Thema geworden.“ Auch oppositionelles Verhalten und ein Aufbegehren gegen Regeln sei oft so auffallend geworden, dass die Polizei eingreifen musste. Nach dem Experten sei dies ein bundesweites Phänomen.
Eine repräsentative Studie der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf zeigt: Psychische Auffälligkeiten haben sich seit dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 bei Kindern nahezu verdoppelt. Erschreckend klingt, was das Sozialreferat München auf Anfrage schreibt: Junge Menschen aus schwierigen Familienverhältnissen äußerten nun auch vermehrt Selbstmord-Absichten. Dabei stützt sich die Behörde auf die Aussagen von Pflegeeltern und anderen gesetzlichen Betreuern, die sich ergänzend oder als Ersatz von leiblichen Eltern um Kinder kümmern.
Zahl der Essstörungen hat sich verdoppelt
Bundesweit hat ebenfalls ein weiteres Krankheitsbild stark zugenommen: Deutlich mehr Jugendliche leiden an Anorexia nervosa. Dazu gehören nicht nur Mädchen, sondern auch Jungen und Kinder, die erst elf oder zwölf Jahre alt sind, so Parjens. „Wir haben hier 50 stationäre Plätze, und von denen sind jetzt rund ein Fünftel mit Patientinnen belegt, die unter einer Essstörung leiden und auf eine längere Behandlung angewiesen sind. Das sind mehr als doppelt so viele wie in Zeiten vor der Pandemie.“ Zugenommen habe auch die Schwere der Erkrankung, berichtet Sigrid Aberl, Chefärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik in München-Schwabing. Viele Betroffene hätten sehr stark an Gewicht verloren oder zeigten auffallend starke psychische Begleiterscheinungen und emotionale Belastungen.
Das vermehrte Auftreten von Essstörungen liegt nach Parjens daran, dass während einer Pandemie viele Tagesstrukturen wegbrechen und somit das Bedürfnis nach Kontrolle erhöht ist. Manche Betroffene seien sehr an Leistung orientiert und haben Probleme mit dem Wegfall des Schulalltags. Auch der zunehmende Medienkonsum und die dort vertretenen Schönheitsideale tragen zu den steigenden Essstörungen bei, so der Experte.
Lockdown kann psychosoziale Folgen nach sich ziehen
Parjens befürchtet, dass der anhaltende Lockdown schwere psychosoziale Folgen mit sich bringt. „Die Anzahl psychischer Erkrankungen wird bei Kindern und Jugendlichen ansteigen. Waren früher 20 Prozent betroffen, geht man jetzt von mindestens 30 Prozent aus“, erklärt der Chefarzt. „Es wird dauern, bis man zum Alltag zurückkehren kann. Und es wird auch unter den Kindern und Jugendlichen Verlierer geben.“ Auch die Jugendämter in Bayern glauben, dass die Folgen von Corona für junge Menschen noch lange nicht absehbar sind. Je länger die Krise dauert, desto gravierender wirkt sie sich auf Bildung, Gesundheit, Ernährung und Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen aus.
Anzeichen von Magersucht erkennen
Die Anorexia nervosa betrifft bis zu 4 Prozent aller Frauen und 0,3 Prozent aller Männer. Die meisten Betroffenen nehmen sich selbst trotz extremen Untergewichts als zu dick wahr. So vermeiden sie die Nahrungsaufnahme oder zumindest fettreiche Lebensmittel gänzlich. Manche beschleunigen das Abnehmen etwa durch Erbrechen oder exzessiven Sport. Die Essensaufnahme geschieht in der Regel sehr langsam. Es wird auch Tage geben, an denen Betroffene ganz auf Mahlzeiten verzichten. Das Körpergewicht kann so niedrig werden, dass gesundheitliche Beeinträchtigungen und körperliche Reaktionen eintreten. Hierzu gehören vor allem Kreislaufbeschwerden, Herzrhythmusstörungen und hormonelle Probleme. In der Pubertät äußert sich dies häufig dadurch, dass die Regelblutung ausbleibt oder gar nicht erst einsetzt.
Falls Sie bei Ihrem Kind eines der oben genannten Symptome erkennen, sollten Sie vorsichtig versuchen, das Thema Essen anzusprechen. Schildern Sie Ihre Wahrnehmungen und vermitteln Sie Ihrem Kind, dass Sie sich Sorgen machen. Als erste Anlaufstelle sollten Sie sich dem Kinderarzt anvertrauen. Danach wird er Sie mit Ihrem Kind an einen Psychologen überweisen. Gerade Kinderärzte wissen, wohin Sie sich für einen Termin wenden müssen. In den meisten Fällen, vor allem bei einer vorangeschrittenen Erkrankung, wird Ihr Kind eine stationäre Aufnahme benötigen. In einer Klinik für Essstörungen werden die Ärzte über eine Anamnese den Grad der Erkrankung feststellen und dann eine Therapie einleiten. In der Therapie wird es darum gehen, dass Ihr Kind an Gewicht zunimmt. Außerdem wird in Einzel- und Gruppentherapien versucht, das Essverhalten wieder zu normalisieren. Hierzu sind Gespräche vorgesehen, sowie Kochkurse, Ernährungsberatung, gemeinsame Mahlzeiten und Bewegungstherapien.
Ein guter Heilungserfolg wird bei zwei Dritteln der jugendlichen Patienten erreicht. Allerdings leiden sie laut einer Studie im Schnitt über zehn Jahre ihres Lebens an dieser Erkrankung. Die Sterblichkeit ist ungefähr fünfmal so hoch wie in der gleichaltrigen Normalbevölkerung. Das Netzwerk Magersucht bietet Hilfestellung für Menschen, deren Kinder oder Bekannte an Anorexia nervosa erkrankt sind.
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