Eine neue Variante des Coronavirus SARS-CoV-2 grassiert derzeit in Südostengland. Diese scheint deutlich infektiöser zu sein als die bisherige Form. Hinweise zu schwereren Verläufen gibt es keine, die Wirkung des Impfstoffes ist nach derzeitigen Einschätzungen nicht gefährdet. Viele Länder, darunter auch Deutschland, Österreich und die Schweiz, haben den Flugverkehr mit Großbritannien eingestellt. Was man bisher weiß und ob die neue Form wirklich gefährlicher ist:
Neue Variante in Südostengland
Die neu entdeckte Variante trägt die Bezeichnung „VUI-202012/01“ (erste „Variant Under Investigation“ im Dezember 2020) und ist in London das erste Mal Mitte September aufgetreten. Im Südosten Englands hat sie sich mittlerweile zur „dominanten“ Form von SARS-CoV-2 entwickelt. In London gehörten in der zweiten Dezemberwoche bereits 60 Prozent aller Fälle zu der neuen Virus-Variante, so Patrick Vallance, oberster wissenschaftlicher Berater der britischen Regierung. Er führte den hohen Anstieg der Covid-19-Patienten im Krankenhaus darauf zurück. Einen Hinweis auf ein höheres Sterberisiko gibt es bisher nicht.
Machen Mutationen das Virus gefährlicher?
Mutationen von Viren passieren ständig spontan, sind also ganz „normal“. Bisher seien allein bei SARS-CoV-2 rund 300.000 Mutationen nachgewiesen worden, so Gen-Forscher Alex Kahn. Diese Tatsache allein bedeutet nicht, dass das Virus dadurch gefährlicher wird. Die meisten bis dato festgestellten Mutationen verändern es nicht grundlegend in seinen Eigenschaften. Mit jedem Ansteigen der Infektionszahlen erhöht sich jedoch auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Virus mutiert und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass „gefährlichere“ Mutationen folgen.
Die gute Nachricht: Das Coronavirus SARS-CoV-2 gehört zu den eher langsam mutierenden Viren. Bei den Influenzaviren beispielsweise passieren Mutationen relativ häufig, dementsprechend muss auch die Influenza-Impfung laufend angepasst werden.
Was ist eine Mutation?
Eine Mutation ist die Veränderung einer Gensequenz im Erbgut, also eine Änderung der Buchstabenabfolge, die das Erbgut beschreibt. Dies kann spontan passieren und tritt nicht nur bei Viren, sondern auch etwa in menschlichen Zellen auf. In der Evolution spielen Mutationen eine wichtige Rolle, da sie Anpassung an veränderte Umweltbedingungen ermöglichen.
Die derzeit in England grassierende Form von SARS-CoV-2 wird der Viruslinie B.1.1.7 zugeordnet. Sie hat insgesamt 17 Mutationen, drei bereits näher bekannte treten in dieser Form erstmals gemeinsam auf. Sie betreffen das Spike-Protein, also den „Schlüssel“ des Virus, mit dem es in menschliche Zellen gelangt. Die Mutation N501Y ist schon aus Südafrika bekannt, wo sich zeigte, dass sie dem Virus offenbar eine schnellere Ausbreitung ermöglicht. Die beiden anderen Mutationen beeinflussen ebenfalls die Bindefähigkeit an menschliche Zellen, eine davon verstärkend, eine abschwächend, so Virologe Christian Drosten. Wie genau diese drei Mutationen zusammenspielen und welche Eigenschaften sie der neuen Variante geben, ist noch Untersuchungsgegenstand.
Ist die neue Form ansteckender?
Der britische Premierminister Boris Johnson verkündete am Samstag, dass die kürzlich entdeckte Variante um bis zu 70 Prozent ansteckender sei als die bisherige Form. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, auch britische, halten sich mit solchen Aussagen zunächst zurück. Die Zahl sei „einfach so genannt worden“, so Drosten. Solche Angaben basieren auf epidemiologischen Modellen: Dabei wird analysiert, wie schnell die neue Variante die bisherigen verdrängt. Zahlen zur Ansteckung beruhen vorläufig meist auf Schätzungen, wissenschaftliche Grundlagen zur tatsächlichen Infektiosität fehlen bisher. Vorsicht ist dennoch angebracht: Man könne nicht ausschließen, dass diese Mutationen ansteckender sind, derzeit habe man aber auch keinen Beweis dafür.
Drosten: Vorsichtig mit Deutungen umgehen
Laut Drosten sind zwei Aspekte der südenglischen Virus-Variante von besonderem Interesse: Erstens hat das Virus dort viele Mutationen angesammelt und zweitens hat sich diese Variante in England sehr ausgebreitet. Die Ursache dafür muss allerdings nicht zwingend in der Virusform selbst liegen, sondern kann auch mit Zufällen wie Superspreading-Events zusammenhängen, wo Superspreader diese Variante eben weiterverbreitet haben. Man müsse mit der Deutung also vorsichtig sein, da vieles schlicht noch unklar sei.
Wo ist die neue Form bisher aufgetreten?
Wie die WHO am gestrigen Montag mitteilte, ist die neue Variante bisher in England, Island, Italien, Dänemark, in den Niederlanden und in Australien aufgetreten. In Deutschland und Österreich sei sie noch nicht nachgewiesen. Jedoch ist es laut Drosten wahrscheinlich, dass sie auch dort bereits angekommen ist.
Was bedeutet das für die Impfstoffe?
Expertinnen und Experten sind bisher wenig besorgt, dass die Wirksamkeit der Impfstoffe durch die neue Virus-Variante beeinflusst werden könnte. Die Mutationen betreffen das Spike-Protein des Virus – worauf die Impfstoffe von BioNTech/Pfizer sowie von Moderna setzen. Dennoch bestehe zunächst kein Grund zur Sorge – denn Impfstoffe erzeugen für gewöhnlich eine Immunreaktion gegen mehrere Virus-Merkmale. Daher würde die Veränderung einzelner Merkmale nicht zwingend dazu führen, dass das Immunsystem den Erreger nicht mehr erkennt. BioNTech- Chef Uğur Şahin ist zudem zuversichtlich, dass der Impfstoff des Unternehmens auch gegen die Variante in Großbritannien wirkt: Er wurde bereits gegen 20 andere Mutationsformen von SARS-CoV-2 getestet und konnte diese stets inaktivieren. Derzeit wisse man außerdem nicht, ob die beobachteten Veränderungen die Eigenschaften des Erregers überhaupt entscheidend beeinflussen. Trotzdem müssten die weiteren Entwicklungen genau beobachtet werden.
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