Seit anderthalb Jahren befasst die wissenschaftliche Forschung sich nun schon mit dem Coronavirus SARS-CoV-2. Dabei kommen viele Erkenntnisse zusammen, sodass teilweise selbst Experten den Überblick verlieren. Forschende der European Group on Immunology of Sepsis (EGIS) trugen daher die wichtigsten Daten zu der Viruserkrankung zusammen.
Grenzenlose Zusammenarbeit
Die EGIS wurde 2018 gegründet und umfasst 27 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus zehn Ländern und verschiedenen Disziplinen. Ihre Fachkenntnisse und Interdisziplinarität setzten sie nun dafür ein, die vorhandene Literatur zu Covid-19 zu analysieren und kritisch zu bewerten. Die Ergebnisse veröffentlichten sie im Fachmagazin „The Lancet„. „Die vorbehaltfreie Zusammenarbeit über Fächer- und Ländergrenzen hinweg ist entscheidend, gerade in der derzeitigen Situation“, erklärt einer der EGIS-Koordinatoren und Letztautor Dr. Ignacio Rubio vom Universitätsklinikum Jena. „Nur durch eine größtmögliche Bündelung wissenschaftlicher Expertise werden wir in unserem Streben nach gesichertem ‚Covid-19-Wissen‘ entscheidend vorankommen.“
Der Vorteil von SARS-CoV-2
Die Forschungsgruppe charakterisiert Covid-19 als eine virale Erkrankung mit einem ausgeprägten vaskulären Entzündungsanteil. Anders als andere Coronaviren vermehrt sich SARS-CoV-2 in den unteren Atemwegen, was eine schwere Lungenentzündung bis hin zum Lungenversagen auslösen kann. Der „infektiöse Vorteil“ von SARS-CoV-2, so heißt es in einer Pressemitteilung des Uniklinikums Jena, ist die Besiedlung und Vermehrung des Viruserbguts auch in den oberen Atemwegen. Eine hohe virale Belastung steht in Verbindung mit schweren Krankheitsverläufen.
Krankheit der Gefäße
„Erstaunlich ist die Erkenntnis, dass wir in einer bestimmten Phase der Erkrankung Patienten sehen, deren Sauerstoffgehalt im Blut kritisch reduziert ist, die aber zunächst oft keine Einschränkungen der Lungenbelüftung zeigen. Patienten atmen selbst in Ruhe nicht selten ein Vielfaches als normal üblich“, beschreibt Dr. med. Martin Winkler von der Universitätsmedizin Göttingen. „Das ist vermutlich ein Ausdruck, dass die virale Infektion zunächst eher die Blutgefäße betrifft als die belüfteten Areale der Lunge und so den schweren Sauerstoffmangel verursacht.“ Durch eine Schädigung des Endothels, der innersten Schicht von Blutgefäßen, und damit verbundenen Thrombosen oder Gerinnungsstörungen ließen sich auch andere Organkomplikationen erklären, schreiben die Forschenden. Sie betonen weiterhin, dass die Erkrankung nicht nur die Lunge, sondern auch Gehirn, Herz, Nieren, Darm oder Leber betreffen kann. Verglichen mit Influenza oder dem ersten SARS-Virus kommt es bei Covid-19 deutlich häufiger zu Multiorganversagen und schweren Gerinnungsstörungen.
Untypisches Entzündungsprofil
Außerdem beobachten Mediziner bei Covid-19 oft eine untypische Immunantwort. Entzündungsfördernde Botenstoffe, sogenannte Zytokine, werden bei der Erkrankung länger, jedoch in geringerer Konzentration produziert als bei anderen schweren Infektionen. Diese Unterschiede erschweren die Immunantwort und damit die Bekämpfung des Virus. Marcin Osuchowski vom Ludwig Boltzmann Institut für Traumatologie in Wien warnt: „SARS-CoV-2 ist ein neues infektiöses Pathogen, welches unser Immunsystem vor eine neue Herausforderung stellt. Es wird damit verständlich, dass unsere Herangehensweise nicht die sein darf, bekannte und bisher vertretene Konzepte schlicht auf Covid-19 zu übertragen.“
Keine vorschnellen Schlüsse
Zudem betont der Forscher, dass wir trotz anderthalb Jahren Pandemie vieles noch nicht sicher wissen: „Es wird zunehmend deutlich, dass die Schwere von Covid-19-Erkrankungen mit einer fehlregulierten Antwort des Immunsystems in Zusammenhang steht, die sich von bislang bekannten Mechanismen und Ursachen einer Sepsis unterscheidet. Wir raten zur Vorsicht gegenüber der weit verbreiteten Vorstellung eines systemischen Zytokinsturms als führender Grund für die beobachteten Multiorganreaktionen. Die Datenlage dazu ist noch nicht eindeutig.“ Außerdem tragen die Forschenden in ihrer Übersichtsarbeit die wichtigsten noch zu beantwortenden Forschungsfragen zusammen. Dazu gehören die Charakterisierung der bekannten und die Identifizierung neuer Prognosemarker für den Verlauf und Langzeitfolgen der Erkrankung sowie qualitativ hochwertige klinische Studien zur Optimierung der gerinnungshemmenden und immunmodulatorischen Therapien.
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