Fünf Personen von 10.000 sind nicht viele – 350 Millionen hingegen schon: Das ist die Anzahl an Menschen, die weltweit von sogenannten seltenen Erkrankungen betroffen sind. Damit haben sie insgesamt eine ähnliche Prävalenz wie einige weit verbreitete Volkskrankheiten. Doch von vielen unter ihnen sind nur eine Handvoll an Fällen bekannt, was den Weg zur Diagnose schwierig gestaltet und die Therapiemöglichkeiten einschränkt. Mehr Bewusstsein für seltene Erkrankungen könnte das Leben von Betroffenen stark erleichtern.
Der Weg zur Diagnose
Aktuell werden sechs- bis siebentausend seltene Krankheiten beschrieben. Einige von ihnen sind trotz ihrer Seltenheit durchaus bekannt, wie etwa die Amytrophe Lateralsklerose (ALS), die durch einen berühmten Patienten – den Physiker Stephen Hawking – sowie die „Ice Bucket Challenge“ vor einigen Jahren Bekanntheit erlangte. Das führte dazu, dass Pharmaunternehmen mehr Geld in die Forschung investierten. Doch die meisten seltenen Erkrankungen bleiben unbekannt und werden dementsprechend auch nicht weiter erforscht. Bei ihnen spricht man auch von „orphan diseases“, da Betroffene als „Waisenkinder der Medizin“ gelten.
„Keine Krankheit kann zu selten sein, um ihr Aufmerksamkeit zu schenken“, heißt es auf der Webseite des Orphanet – einem Portal, das Informationen über seltene Krankheiten bündelt. Trotzdem dauert es durchschnittlich stolze fünf Jahre bis Betroffene ihre Diagnose erhalten. Acht Ärztinnen und Ärzte besuchen sie im Durchschnitt, um herauszufinden, was ihre Symptome verursacht – dabei treten die Beschwerden oft schon im Kindesalter auf. Fehldiagnosen sind auf dem Weg nicht selten. „Diese Patienten haben eine wahre Odyssee quer durch unser Gesundheitssystem hinter sich“, sagt der Kardiologe Jürgen Schäfer, Leiter des Zentrums für unerkannte und seltene Erkrankungen in Marburg. „Der Leidensdruck der Betroffenen ist enorm.“
Nach der Identifizierung: Die nächste Hürde
Selbst wenn die Krankheit korrekt identifiziert wurde, ist der Leidensweg der Erkrankten noch nicht vorbei: Für einige gibt es zwar Behandlungsmöglichkeiten, spezifische Medikamente stehen aber für die wenigsten Krankheiten zur Verfügung. Das ist ihrer Seltenheit geschuldet, denn diese macht es für Pharmaunternehmen wenig lukrativ Geld in die Erforschung der Krankheitsbilder zu stecken. Doch selbst wenn Geld keine Rolle spielen würde, fehlt es auch an anderer Stelle: Um Krankheiten und mögliche Behandlungen zu erforschen, braucht es klinische Studien – und die brauchen zahlreiche Teilnehmende bzw. Betroffene. Daher ist die Symptombekämpfung oft die einzige Möglichkeit den „Waisenkindern“ zu helfen.
Behandlung der Zukunft: Gentherapie?
Mögliche Ursachen seltener Erkrankungen sind Infektionen oder auch Umweltfaktoren. Eine seltene Infektionskrankheit ist etwa die Tollwut, mit der man sich über den Biss eines erkrankten Tieres infizieren kann. Eine umweltbedingte seltene Erkrankung ist die Quecksilbervergiftung, wenn das Element in die Lunge oder in die Blutbahn gerät. Doch in den meisten Fällen sind seltene Erkrankungen genetisch bedingt: Etwa 80 Prozent von ihnen werden so verursacht, zum Beispiel durch Genmutationen. Daher treten Symptome oft schon im Kindesalter auf und sind nicht selten chronisch. Hoffnungsträger für die Behandlung solcher Erkrankungen ist daher das schnell wachsende Feld der Gentherapien. Da die Ursache für die Krankheiten oft bei einem spezifischen Gen liegt, könnte das Problem in Zukunft durch das Einschleusen korrigierter DNA-Abschnitte bekämpft werden.
Information rettet Leben
Der Fall der US-Amerikanerin Susannah Cahalan zeigt, wie schwer es Menschen mit seltenen Erkrankungen haben – und welche Auswirkung Aufmerksamkeit haben kann. In ihrem Buch „Brain on Fire“ beschreibt sie ihren langen Weg zur Diagnose. Nach vielen Falscheinschätzungen fand ein Arzt schließlich die Ursache für ihre Symptome: Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis, eine extrem seltene Autoimmunerkrankung. Durch ihr Buch und dessen Verfilmung erlangte ihr Fall internationale Bekanntheit, Cahalan hofft, ihrer seltenen Erkrankung so mehr Bekanntheit zu verschaffen und den Leidensweg Betroffener zu verkürzen: „Menschen wurden diagnostiziert, aufgrund dessen, was ich geschrieben habe“, sagte Cahalan in einem Interview. „Es ist wichtig, jeder Person, die eine Diagnose bekommen kann, auch eine zu ermöglichen“, sagt auch die Ärztin Lisa Sanders. Die Professorin an der Yale University nutzt soziale Medien, um das Bewusstsein für seltene Erkrankungen zu erhöhen. Außerdem schreibt sie seit 2002 für die New York Times die Kolumne „Diagnosis“, in der sie ungewöhnliche Krankheitsbilder vorstellt.
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