Bei Multipler Sklerose (MS) handelt es sich um eine chronisch entzündliche Erkrankung im zentralen Nervensystem, deren Verlauf unterschiedliche Ausprägungen zeigt. Deshalb ist auch die Wahl einer individuell passenden Therapie für die treffsichere Vorhersage des weiteren Krankheitsverlaufs essenziell. Forscher der medizinischen Universität Innsbruck entdeckten nun hierfür einen neuen Biomarker, der eine maßgeschneiderte Behandlung von MS ermöglicht.
Keine Heilung möglich
Multiple Sklerose zählt zu den häufigsten neurologischen Erkrankungen, die im jungen Erwachsenenalter zu anhaltendenden Behinderungen führt. Schuld daran sind entzündliche Veränderungen im zentralen Nervensystem (Gehirn und Rückenmark), die beispielsweise Lähmungen, Sensibilitätsdefizite, Gleichgewichtsstörungen, Sehstörungen, Gehbehinderungen sowie kognitive Beeinträchtigungen verursachen können. Seit einigen Jahren gibt es eine Reihe von Therapiemöglichkeiten, die zumindest die Krankheitsaktivität (sog. Schübe) auch bei schweren Verläufen günstig beeinflussen. Medikamente für eine vollständige Heilung der Krankheit gibt es bisher allerdings noch nicht.
Nutzen und Risiken: Bei Immuntherapien nur schwer abschätzbar
Kaum vorhersehbar war bislang für Betroffene, für welchen Zeitraum ab Beginn der Erkrankung keine dadurch verursachten Einschränkungen bestehen und ab wann der nächste Krankheitsschub auftreten könnte. Mittels Magnetresonanztomographie (MRT) stellten bisherige Methoden die Anzahl entzündlicher Läsionen im Gehirn dar und erlaubten damit eine gewisse Einschätzung des Krankheitsverlaufs. Weitere Stratifizierungskriterien wie diese sind jedoch rar: „Um den Nutzen gegen die Risiken der verschiedenen Immuntherapien im Einzelfall abzuwägen, ist aber die Erstellung einer individuellen Prognose notwendig“, bestätigt auch Neuroimmunologe Harald Hegen von der Innsbrucker Univ.-Klinik für Neurologie.
Nachweis findet sich in Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit
Gemeinsam mit Forschern der medizinischen Universität Innsbruck, sowie Wien und Graz, ist es dem Team im Rahmen einer Beobachtungsstudie im Anschluss gelungen, ein im Liquor cerebrospinalis (Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit) nachweisbares Protein zu identifizieren. Diese sogenannten κ-freien Leichtketten (κ-FLC, kappa free light chain) könnten in zukünftigen gezielteren Behandlungsmethoden als unabhängige Biomarker für eine frühe Prognose der Krankheit herangezogen werden: „Der neue Biomarker birgt einen zusätzlichen Nutzen zu bereits etablierten Risikofaktoren und bringt uns einen Schritt näher zur individualisierten Behandlung von MS“, so auch Hegen.
Schwierige Prognose zu Beginn des Krankheitsverlaufs
In die Innsbrucker Studie wurden insgesamt 88 Patienten zum Zeitpunkt des ersten klinischen Ereignisses einbezogen, die beispielsweise an einer Rückenmarks- oder Sehnerventzündung litten. Das Durchschnittsalter lag bei etwa 33 Jahren, zwei Drittel der Teilnehmer waren Frauen – damit entsprach die Kohorte einem auch in der Realität typischen Patientenkollektiv. Die verschiedenen Krankheitsverläufe der Studienteilnehmer wurden dann über vier Jahre hinweg beobachtet: „Bei hoher Krankheitsaktivität ist die Zeit bis zum zweiten Schub kürzer, erfolgt dieser erst später, ist die Langzeitprognose besser. Eine Vorhersage zu Beginn der Erkrankung ist schwierig und erschwert oft die Therapieentscheidung“, ergänzt Hegen. Letztendlich wurden anhand initialer Liquor-Proben der κ-FLC Index bestimmt und mit der Zeit bis zum Auftreten des zweiten Krankheitsschubes ergänzt, wodurch eine bessere Einschätzung des Krankheitsverlaufs möglich sei.
Index ermöglicht frühe Identifizierung bei höherer MS-Aktivität
Anhand der Ergebnisse wurden Patienten mit einem hohen κ-FLC Index (über 100) mit einem vierfach erhöhten Risiko für einen schwereren Krankheitsverlauf eingestuft. Die durchschnittliche Zeit bis zum zweiten Schub betrug lediglich 11 Monate, während Betroffene mit einem niedrigen κ-FLC Index (100 oder weniger) im Schnitt erst nach 36 Monaten einen zweiten Schub erlebten: „Auch unter Berücksichtigung bekannter prädiktiver Faktoren wie Alter, Geschlecht, MRT Läsionslast und -aktivität, erwies sich der κ-FLC Index als unabhängiger Marker, mit dem Patientinnen und Patienten mit höherer Krankheitsaktivität früh identifiziert und damit der für sie geeigneten Therapie zugeführt werden können“, gibt sich Hegen überzeugt.
Niedrige Kosten und schnelle Verfügbarkeit
Bereits seit Jahrzehnten sind in der Diagnostik von Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit für den Nachweis von Entzündungsprozessen im zentralen Nervensystem sogenannte oligoklonale Banden (Immunglobuline vom Typ IgG) etabliert. Hier besteht allerdings nur die Möglichkeit eines positiven oder negativen Ergebnisses, was eine genaue Prognose bis dato erschwerte: „Nachdem bei rund 90 Prozent der Patientinnen und Patienten mit MS ohnehin oligoklonale Banden nachweisbar sind, ist ihr prognostischer Wert sehr limitiert. Der κ-FLC Index erlaubt hier erstmals eine weitere Stratifizierung. Außerdem besticht dieser Marker durch niedrigere Kosten und deutlich schnellere Ergebnisverfügbarkeit“, ergänzt Hegen. Dadurch könnte es nicht mehr lange dauern, bis der neue Biomarker in die gängige Medizin und in die bestehenden Behandlungsmethoden von MS aufgenommen wird.
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