Jeder kennt es: Der Kopf schmerzt aus unersichtlichen Gründen und der Körper fährt herunter – unsere Konzentration- und Leistungsfähigkeit lässt nach und man würde sich am liebsten einfach nur noch hinlegen. Wenn Kopfschmerzen auch andere Symptome auslösen wie zum Beispiel Übelkeit oder Licht- und Geruchsempfindlichkeit, kann es sich um Migräne handeln. Etwa 14 Prozent der gesamten Weltbevölkerung leidet an der Gehirnkrankheit, die oft schwer zu diagnostizieren ist, da die Symptomatik sehr vielfältig sein kann. Auch die Behandlung ist nicht immer einfach. Jedoch gibt es jetzt für viele Betroffene neue Hoffnung: Forschende der University of Illinois Chicago haben einen neuen zellulären Mechanismus bei Migräne entdeckt, der vielversprechende Ansätze zur Behandlung liefert. Im Fokus der Untersuchungen steht die sogenannte neuronale Plastizität. Die Ergebnisse wurden in der englischsprachigen Fachzeitschrift „eLife“ veröffentlicht.
Anzeichen von chronischer Migräne
Migräne ist eine häufig auftretende Erkrankung des Gehirns, die auch chronisch werden kann. Personen, die an der chronischen Variante der Krankheit leiden, haben meist an mehr als 15 Tagen des Monats Kopfschmerzen und fühlen sich dadurch stark beeinträchtigt, auch im Alltag. Außerdem ist die Anzahl der Patienten mit hohen Kosten für die Gesundheitssysteme verbunden, Migränebehandlungen mit stationärem Aufenthalt kosten laut dem Informationsdienst Wissenschaft (idw) rund 30 Millionen Euro pro Jahr. Bei chronisch Erkrankten sind Therapien meist nur teilweise wirksam oder schlecht verträglich. Somit entsteht ein erhöhter Bedarf an vielfältigeren medikamentösen Methoden. Im Rahmen der aktuellen Studie ist es den Wissenschaftlern gelungen, einen bisher unbekannten Mechanismus der chronischen Version zu erkennen. Dieser eröffnet eine zelluläre Option für die Migränetherapie.
Die Rolle der neuronalen Plastizität
Bei der neu entdeckten Therapiemöglichkeit spielt anscheinend die sogenannte neuronale Plastizität eine Rolle. Dies bezeichnet den dynamischen Prozess der Neu- und Umleitung der Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Die neuronale Plastizität ist einerseits für die Ursachen von Störungen des zentralen Nervensystems, wie zum Beispiel Depressionen, chronischer Schmerz oder Sucht entscheidend. Andererseits ist sie ebenso an der Heilung dieser Erkrankungen beteiligt, so Studienautorin Dr. Amynah Pradhan.
Tubulin und seine Auswirkungen
Das Zytoskelett besteht aus Tubulin, dessen Aufgabe es ist, die Zellstruktur zusammenzuhalten. Tubulin ist ein dynamisches Protein. Das heißt, dass es sich ständig im Fluss befindet und stetig wächst oder schrumpft . Dabei verändere es die Größe und Form einer Zelle, erklären die Wissenschaftler. Somit unterstützt es das Nervensystem dabei, auf seine Umgebung zu reagieren und sich dementsprechend anzupassen. Tubulin wird im Körper durch den chemischen Prozess der Acetylierung modifiziert. Sobald es acetyliert ist, sorgt es für ein flexibles, angepasstes und stabiles Zytoskelett in der Zelle. Das Gegenteil, die Tubulin-Deacetylierung, wird durch Histon-Deacetylase 6 (HDAC6) eingeleitet und begünstigt eine Instabilität des Zytoskeletts.
Verminderte neuronale Komplexität
Anhand von Untersuchungen an Modellen von Mäusen haben die Forschenden herausgefunden, dass eine verminderte neuronale Komplexität ein Hinweis oder ein Mechanismus chronischer Migräne darstellen könnte. Wenn HDAC6 gehemmt wird, werde die Tubulin-Acetylierung und die Flexibilität des Zytoskeletts wiederhergestellt. Hinzu kommt, dass HDAC6 die sogenannten zellulären Korrelate der Kopfschmerzen umkehrte und somit Migräne-assoziierte Schmerzen verringerte. Dies ließ die Wissenschaftler darauf schließen, dass der Prozess auf einen neuartigen und vielversprechenden Ansatz zur Migräne-Therapie hinweise.
HDAC6-Inhibitoren als möglicher Therapieansatz
„Diese Forschungsarbeit deutet darauf hin, dass der chronische Migränezustand durch eine verminderte neuronale Komplexität charakterisiert zu sein scheint und dass die Wiederherstellung dieser Komplexität ein Markenzeichen von Anti-Migräne-Behandlungen sein könnte. Dies bildet auch die Grundlage für die Entwicklung von HDAC6-Inhibitoren als neue therapeutische Strategie für Migräne”, verkünden die Wissenschaftler. Das bedeutet, dass dieser Therapieansatz das Gehirn möglicherweise auf den Zustand vor der chronischen Migräne zurückversetzen könnte. Die Studienautorin Dr. Pradhan erklärt in einer Pressemitteilung: „Die Blockierung von HDAC6 würde es den Neuronen ermöglichen, ihre Flexibilität wiederherzustellen, so dass das Gehirn empfänglicher für andere Arten der Behandlung wird. In diesem Modell sagen wir, dass chronische Migränepatienten vielleicht eine verminderte neuronale Flexibilität haben. Wenn wir diese Komplexität wiederherstellen würden, können wir sie vielleicht aus diesem Kreislauf herausholen”.
Wirksamkeit von Schmerztherapien verbessern
Sobald die normale neuronale Komplexität bei den Betroffenen wiederhergestellt ist, könne das Gehirn besser auf Schmerztherapien reagieren, fügt die Expertin hinzu. HDAC6-Inhibitoren werden nicht nur für die Migräne-Forschung entwickelt. Auch bei Erkrankungen wie beispielsweise Krebs und anderen Arten von Schmerztherapien deutet vieles darauf hin, dass die Inhibitoren zu einer Verbesserung beitragen können. Der Wissenschaftlerin zufolge stellt sich nun die Frage, ob die festgestellten Ergebnisse und Änderungen sogar ein Erkennungszeichen für alle Arten chronischer Schmerzen sein könnten.
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