Bisher gab es einen Bereich in der menschlichen DNA, der bis dato als „Schrott-DNA“ oder „Junk-DNA“ bezeichnet wurde. Ein internationales Forscherteam hat nun aber entdeckt, dass diesem Teil doch eine interessante Funktion zukommt: Anscheinend liegt genau in diesem Strang die Ursache für diverse Erbkrankheiten.
Fehlbildungen der Gliedmaßen
Unter der Beteiligung des Max-Planck-Instituts für molekulare Genetik und der Charité – Universitätsmedizin Berlin verzeichnete das Forschungsteam kürzlich einen Durchbruch in der Forschung. Die Wissenschaftler aus aller Welt identifizierten einen bislang völlig unbekannten genetischen Mechanismus. Dieser zeigt sich für schwere Fehlbildungen der Gliedmaßen verantwortlich und könnte auch bei anderen angeborenen Krankheiten eine Rolle spielen.
Nur ein kleiner Teil der DNA bisher als wichtig erachtet
Bereits vor 20 Jahren wurde die menschliche DNA durch das internationale Humangenomprojekt entschlüsselt. Mit Beendigung des Projekts im April 2003 wurden etwa 20.000 bis 25.000 Gene identifiziert, die so gut wie alle Körperfunktionen steuern. Dabei machen sie anteilig nur weniger als zwei Prozent des gesamten Genoms aus. Der restliche Teil blieb bisher unbeleuchtet und wurde als „Schrott-DNA“ erachtet, die keinerlei Funktion besitzt.
Nun fand das Forschungsteam bei der Analyse dieser Schrott-DNA aber neue Anhaltspunkte für genetische Erkrankungen. Die spezielle DNA beeinflusst durch Teile ihrer Abschnitte das bekannte Gen „engrailed-1“ (En1), das eine zentrale Rolle bei der Entwicklung von Extremitäten, des Gehirns, des Brustbein und der Rippen spielt. Wenn dieser Vorgang nicht korrekt abläuft, können schwere Fehlbildungen der Gliedmaßen die Folge sein. „Ich erwarte, dass es noch mehr genetische Krankheiten mit vergleichbarer Ursache gibt, die sich nur bisher unserer Aufmerksamkeit entzogen haben“, meint dazu Professor Dr. Stefan Mundlos, Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik.
Drei Fälle ließen Forscher aktiv werden
In Indien und Brasilien tauchten drei Fälle auf, bei denen Betroffene beispielsweise nach vorne gerichtete Kniegelenke, miteinander verschmolzene Finger oder auf den Handinnenseiten wachsende Fingernägel aufwiesen. „Offenbar ist während der Entwicklung der Gliedmaßen die Unterscheidung zwischen ventraler und dorsaler Seite – also der Handfläche beziehungsweise Fußsohle und der Rückseite – bei den Extremitäten verloren gegangen“, führt dazu Professor Mundlos an. Die untersuchenden Ärzte schickten daraufhin die DNA-Proben der genetischen Analysen zur Universität Lausanne. Dort entdeckte man das fehlende Stück nichtkodierender DNA, das sich im Schrott-DNA-Teilbereich befindet. Für eine tiefergehende Analyse taten sie sich mit der Arbeitsgruppe von Professor Mundlos in Berlin zusammen.
Große genetische Wüste
Anfangs wussten die Forscher nur, dass bei den drei Patienten ein ähnliches kleines Stück Erbgut fehlte. Die Sequenz selbst befand sich in der „großen genetischen Wüste“, also dem Abschnitt der nichtkodierenden DNA. Um den genetischen Mechanismus näher analysieren zu können, wurde über ein Mausmodell zunächst dieselbe DNA-Sequenz aus dem Genom der Mäuse entfernt. Die Folge waren die gleichen Missbildungen, wie auch bei den menschlichen Patienten. „Die Ergebnisse bestätigten, dass der fehlende DNA-Abschnitt die Ursache der Erkrankung war“, resümiert Dr. Allou von der Universität Lausanne. Weitere Untersuchungen zeigten auch die fehlende Wirkung auf das so wichtige En1-Gen, wodurch diese Fehlentwicklungen erst zustande kamen. Fehlregulationen von „engrailed 1“ waren zwar bereits bekannt, aber nicht worauf diese genau zurückzuführen sind.
Auch dieses Puzzlestück scheint nun gefunden zu sein: Durch die Fehlregulation oder das Nichtvorhandensein der DNA-Sequenz war auch die RNA-Abschrift nicht vorhanden. Dabei fungiert die RNA hierbei als Bote für Informationen und enthält den Bauplan für Eiweiß. In den betroffenen Fällen schlug diese Abschrift jedoch fehl und wurde nicht transferiert. Dadurch entstanden in Folge die beschriebenen Missbildungen.
Ablesevorgang wichtiger als Abschrift selbst
Eine weitere Entdeckung machte das Forscherteam bei der Beobachtung des Aufbaus und der Sequenz des RNA-Moleküls. Wichtiger scheint aber die Aktivität selbst zu sein als die abgeschriebene Information. Das zeigte sich ebenfalls im Mausmodell, nachdem zwar wieder der Teil mit der Abschrift entfernt, aber diesmal mit fehlerhaften Daten ersetzt wurde. Die Tiere hatten zwar noch immer Anzeichen der Krankheit, diese waren aber nicht mehr so stark ausgeprägt. Das En1-Gen dürfte dennoch aktiviert werden, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie mit der korrekten Sequenz.
Die neuen Erkenntnisse werfen weitere Fragen auf, welche Ziele kommender Forschung sein werden. Die Ergebnisse beeinflussen die zukünftige Diagnostik genetischer Erkrankungen, glauben die Wissenschaftler der Studie. Bis dahin ist es aber noch ein langer Weg: „Über 90 Prozent der Genvarianten befinden sich im nichtkodierenden Teil des Genoms, aber es ist sehr schwierig, sie zu deuten und für diagnostische Zwecke zu nutzen“, betont Dr. Allou.
Was meinen Sie?