Lockdowns, Abstandsregeln und regelmäßiges Testen – seit über einem Jahr zählen diese Corona-Maßnahmen schon zu unserem Lebensalltag. Je länger die Einschränkungen andauern, umso mehr intensiviert sich der Wunsch nach der vorherigen Normalität. Um dieses Ziel zu erreichen, beschäftigen sich Forscher intensiv mit Immunreaktionen gegen das Covid-Virus. Dabei stießen die Experten kürzlich auf überraschende Erkenntnisse.
Coronaviren schon lange medizinisch bekannt
Die Coronapandemie traf zahlreiche Gesundheits- und Sozialsysteme weltweit völlig unerwartet. Dennoch stellen die Coronaviren in der Medizin keine Neuerscheinung dar: Schon seit Jahren sind vier Virenstämme bekannt, die in der menschlichen Bevölkerung grassieren. Diese Viren verursachen für gewöhnlich Erkältungssymptome und werden als HCoV-OC43, HCoV-229E, HCoV-HKU1 und HCoV-NL63 bezeichnet. Schätzungsweise stellen sie die Ursache von bis zu 30 Prozent der Erkältungen dar. Forscher der Charité–Universitätsmedizin Berlin gelang es in Kooperation mit dem Berlin Institute of Health in der Charité und dem Max-Planck-Institut für Molekulare Pflanzenphysiologie zu beweisen, dass die Erkältungscoronaviren eine verstärkte Immunantwort gegen SARS-CoV-2 begünstigen.
Dieser Effekt wurde sowohl während der natürlichen Infektion als auch nach einer Impfung festgestellt. Mit zunehmendem Alter verringerte sich diese Kreuzimmunität allerdings wieder. Medizinern zufolge könnten schwerere Infektionsverläufe sowie schlechterer Impfschutz bei älteren Menschen auf diese reduzierte Schutzwirkung zurückzuführen sein.
Ähnliche Virusstrukturen
Im Verlauf virologischer Untersuchungen fiel Wissenschaftlern der Charité und des MPIMG ein interessanter Aspekt ins Auge: Einige Personen, bei denen kein Kontakt mit SARS-CoV-2 nachgewiesen werden konnte, verfügten dennoch über Gedächtnis-Immunzellen, die den neuartigen Krankheitserreger identifizierten. Die Wissenschaftler begründeten dieses Phänomen damit, dass die sogenannten T-Helferzellen bereits in der Vergangenheit gegen harmlose Erkältungscoronaviren zum Einsatz kamen. Da die aktuelle Virusvariante hinsichtlich des Spike-Proteins auf der Virusoberfläche eine ähnliche Struktur aufweist wie herkömmliche Coronaviren, sind die Abwehrzellen dazu in der Lage, das neue Coronavirus ebenso zu bekämpfen. Obwohl diese Kreuzreaktion durch zahlreiche Studien bestätigt wurde, war bislang noch unklar, inwieweit diese Immunzellen den weiteren SARS-CoV-2-Infektionsverlauf beeinflussen.
Reinfektionen nicht immer förderlich
„Wir haben angenommen, dass kreuzreagierende T-Helferzellen eine schützende Wirkung haben, eine frühere Erkältung mit endemischen, das heißt seit vielen Jahren in der Bevölkerung zirkulierenden Coronaviren also die Symptome bei COVID-19 abmildert“, erklärt Dr. Lucie Loyal, Wissenschaftlerin am Forschungsinstitut Der Simulierte Mensch. Doch auch das Gegenteil wäre nicht auszuschließen gewesen: Bei manchen Viren führt eine Reinfektion mit einem ähnlichen Virusstamm nämlich zu einer fehlerhaften Immunreaktion, die sich negativ auf den Krankheitsverlauf auswirkt.
Immunsystem genau untersucht
Im Rahmen des aktuellen Forschungsprojekts beteiligten sich ab Mitte 2020 fast 800 Probanden, die bislang noch nicht mit dem SARS-CoV-2-Erreger in Kontakt gerieten. Die Mediziner verifizierten in regelmäßigen Abständen, ob sich die Probanden mit dem Virus infiziert hatten. Dies war bei 17 Versuchsteilnehmern der Fall. Daraufhin analysierte das Expertenteam eingehend das Immunsystem der Betroffenen sowohl vor als auch während der Infektion. Dabei kamen die Fachleute zu der Erkenntnis, dass der Körper T-Lymphozyten, die er gegen endemische Coronaviren entwickelt hatte, gegen SARS-CoV-2 ebenso mobilisierte. Des Weiteren spiegelte sich ein hoher Anteil kreuzreagierender Zellen in einer ausgeprägten Immunantwort wider. Die Zellen orientierten sich hierbei insbesondere an einem bestimmten Bereich des Spike-Proteins, der sich bei allen Corona-Varianten ähnelt.
Keine Garantie für zuverlässigen Schutz
„Bei Erkältungen mit harmloseren Coronaviren baut das Immunsystem also eine Art universelles, schützendes Coronavirus-Gedächtnis auf“, erklärt Dr. Claudia Giesecke-Thiel, leitende Autorin der Studie. „Wenn es nun mit SARS-CoV-2 in Kontakt kommt, werden solche Gedächtniszellen wieder aktiviert und greifen nun auch den neuen Erreger an. Das könnte zu einer schnelleren Immunantwort gegen SARS-CoV-2 beitragen, die einer ungehinderten Ausbreitung des Virus im Körper zu Beginn der Infektion entgegensteht und so den Verlauf der Erkrankung vermutlich günstig beeinflusst.“ Trotzdem verdeutlicht die Expertin, dass vorhergegangene Erkältungen keine Garantie für einen zuverlässigen Schutz vor SARS-CoV-2 darstellen. Viel eher liefere die Studie bedeutende Erklärungen bezüglich unterschiedlicher Infektionsverläufe.
Ähnlicher Effekt bei Impfungen
Bei einer Covid-19-Impfung mit dem Vakzin von BioNTech konnten die Wissenschaftler ähnliche Auswirkungen beobachten. Nach einer detaillierten Evaluierung der Immunreaktion von 31 gesunden Personen stellte sich heraus, dass kreuzreagierende T-Helferzellen viel schneller zu einer impfinduzierten Grundimmunisierung führten als normale Abwehrzellen. Dieser Effekt beschleunigte die Antikörperbildung: Bereits nach der Erstimpfung produzierte der Körper Immunglobuline mit einer Geschwindigkeit, die ansonsten nur bei Auffrischungsimpfungen beobachtet wurde. „Auch bei der Impfung kann der Körper also zumindest teilweise auf ein Immungedächtnis zurückgreifen, wenn er bereits Erkältungen mit endemischen Coronaviren durchgemacht hat. Das könnte die überraschend schnelle und sehr hohe Schutzwirkung erklären, die wir zumindest bei jüngeren Menschen schon nach einer Covid-19-Erstimpfung beobachten“, äußert sich Prof. Dr. Andreas Thiel, ebenfalls leitender Autor der Studie.
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