Wie andere Viren auch, braucht SARS-CoV-2 Wirtszellen, um zu überleben und sich im Körper zu verbreiten. Dazu programmiert der Erreger die Zellen so um, dass sie das Virus replizieren. Forschende der Charité Universitätsmedizin Berlin und der Universität Bonn analysierten nun den genauen Wirkmechanismus und konnten so vier Stoffe identifizieren, die den Prozess unterbinden könnten.
SARS-CoV-2 stoppt Zell-Recycling
Das Coronavirus SARS-CoV-2 sorgt durch zwei Mechanismen für eine Replikation seines Erbguts. Zum Einen kapert es die Produktionsstätten der Zellen, sodass diese nur noch Viren herstellen. Das Forschungsteam um Privatdozent Dr. Marcel Müller der Charité und Dr. Nils Gassen des Universitätsklinikums Bonn konnte in einer aktuellen Studie nun zeigen, dass das Virus noch einen anderen entscheidenden Mechanismus lahmlegt: Das Zell-Recycling. Dieser als Autophagie bezeichnete Prozess baut normalerweise altes, beschädigtes Material ab und produziert molekulare Bausteine, die die Zelle für neue Strukturen verwendet. „Wir konnten in unserer Studie zeigen, dass SARS-CoV-2 zwar die Bausteine der Zellen für seine eigenen Zwecke nutzt, ihnen gleichzeitig aber auch Nahrungsreichtum vortäuscht und damit das zelluläre Recycling bremst“, erklärt der Erstautor der Studie Dr. Gassen.
Ähnliche Umprogrammierung wie bei MERS-Infektion
Für die Studie, die sie kürzlich im Fachmagazin „Nature Communications“ veröffentlichten, analysierten die Forschenden den Stoffwechsel und die Verarbeitung molekularer Signale infizierter Zellen sowie Lungengewebe von COVID-19-Patienten. „Vermutlich entgeht SARS-CoV-2 so seinem eigenen Abbau, denn auch Viren werden von der Zelle per Autophagie entsorgt“, fügt Dr. Müller hinzu. „Dieselbe Umprogrammierungsstrategie verfolgt auch das MERS-Coronavirus, für das wir die Hemmung der Autophagie bereits vor über einem Jahr zeigen konnten. Es gibt jedoch auch Coronaviren, die im Gegenteil die Autophagie anregen; das sind insbesondere solche, die Tiere befallen.“ Könnte also verhindert werden, dass das Virus den Recycling-Prozess hemmt, so könnten die Zellen das Virus auch besser bekämpfen – was die Viruslast verringern würde.
Autophagie der Zelle als Ansatz für neue Behandlungen
Basierend auf ihrer neuen Erkenntnis sehen die Forschenden die Stärkung der Autophagie als Ansatz für neue COVID-19-Therapien. Sie untersuchten daher, ob Wirkstoffe, die das Recycling in der Zelle fördern, die Replikation des Erregers bremsen und die Viruslast verringern. Bei Laboruntersuchungen erwiesen sich vier Substanzen als wirksam:
- Spermidin: Ein Polyamin, das der Körper selbst herstellt. Außerdem kann es über Lebensmittel wie Weizenkeime, Pilze und Soja sowie Nahrungsergänzungsmittel aufgenommen werden. In Laboruntersuchungen zeigten die Forschenden, dass Spermidin bei SARS-CoV-2-infizierten Zellen die Virusproduktion um 85 Prozent reduzierte.
- Spermin: Ein mit Spermidin verwandtes Polyamin, das der Körper ebenfalls selbst herstellt. Bei Lungen- und Darmzellen reduzierte Spermin die Produktion von SARS-CoV-2 um mehr als 90 Prozent.
- MK-2206: Ein experimentelles Krebsmedikament. Zurzeit wird seine Verträglichkeit und Wirksamkeit gegen verschiedene Krebsarten in klinischen Studien überprüft. Gegen SARS-CoV-2 zeigte es ebenfalls Potential: Es reduzierte die Virusproduktion um 90 Prozent.
- Niclosamid: Ein antivirales Mittel, das bisher gegen Bandwurm eingesetzt wird. Bereits in einer früheren Studie erwies es sich als wirksam gegen das MERS-Virus. Und auch in der aktuellen Untersuchung war das Bandwurmmittel erfolgreich: Um ganze 99 Prozent reduzierte es die Virusproduktion in den Zellen.
Viele offene Fragen bei Spermidin und Spermin
„Diese deutlichen Effekte von Spermidin und vor allem Spermin sind einerseits natürlich ermutigend, weil bei körpereigenen Stoffen erst einmal weniger Nebenwirkungen zu erwarten sind“, sagt Privatdozent Dr. Müller. „Allerdings haben wir mit Reinsubstanzen gearbeitet, die in dieser Form nicht für eine medikamentöse Einnahme geeignet sind. Insbesondere Spermidin ist in der Zellkultur erst bei einer recht hohen Konzentration nennenswert wirksam.“ Bevor die beiden körpereigenen Polyamine als COVID-19-Therapie eingesetzt werden könnten, müssen daher noch viele Fragen beantwortet werden. Von einer Selbsteinnahme rät der Wissenschaftler ab, da bei falscher Dosierung die Virenvermehrung eventuell noch unterstützt werden könnte.
Großes Potential bei Niclosamid
„Auf Basis unserer Daten halte ich MK-2206 für einen interessanten Wirkstoffkandidaten gegen COVID-19, der nach sorgfältiger Risiko-Nutzen-Analyse auch klinische Studien rechtfertigen würde“, erklärt Privatdozent Dr. Müller. Doch das größte Potential sieht der Forscher beim letzten Kandidaten: „Niclosamid hat in unseren Zellkultur-Untersuchungen den stärksten Effekt gezeigt und ist außerdem ein seit Jahren für Bandwurm-Infektionen zugelassenes Medikament, das bei potenziell wirksamen Dosierungen gut verträglich ist. Wir halten es für den vielversprechendsten der vier neuen Wirkstoffkandidaten. Deshalb prüfen wir an der Charité jetzt im Rahmen einer klinischen Studie, ob Niclosamid auch bei COVID-19-Betroffenen positive Effekte erzielen kann. Über diese Entwicklung freue ich mich sehr, denn sie zeigt, wie schnell Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung Patientinnen und Patienten erreichen können, wenn Forschung und Krankenversorgung eng verzahnt sind und effizient zusammenarbeiten.“
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